18.07.2023

WpÜG: Wann ist eine Vereinbarung Grundlage für ein Übereignungsverlangen?

Eine dem Erwerb i.S.v. § 31 Abs. 3 bis 5 WpÜG gleichgestellte Vereinbarung setzt nicht voraus, dass der Bieter die Übereignung von Aktien verlangen kann. Eine Vereinbarung ist bereits dann eine Grundlage für ein Übereignungsverlangen, wenn sie bei objektiver Betrachtung eine auf den Erwerb von Aktien der Zielgesellschaft gerichtete rechtsgeschäftliche Disposition des Bieters enthält, in der zum Ausdruck kommt, dass er bereit ist, eine Gegenleistung für den Aktienerwerb zu erbringen, die die nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 WpÜG angebotene Gegenleistung übersteigt.

BGH v. 23.5.2023 - II ZR 219/21
Der Sachverhalt:
Die Klägerin hielt im Jahr 2017 insgesamt 295.500 Stückaktien der S. AG, deren Aktien zum Handel im regulierten Markt an der Frankfurter Wertpapierbörse (Prime Standard) zugelassen waren. Die Beklagte ist die Rechtsnachfolgerin der N. AG und Alleingesellschafterin der Hauptaktionärin der S., der N. GmbH. Die Beklagte unterbreitete den Aktionären der S. im April 2017 ein freiwilliges öffentliches Übernahmeangebot, das die Mindestannahmeschwelle nicht erreichte. Im Juli 2017 veröffentlichte S. eine Mitteilung, nach der E. sowie von ihm kontrollierte Fondsgesellschaften insgesamt 8,69 % des Grundkapitals der S. hielten und kontrollierten. Am 19.7.2017 veröffentlichte die Beklagte ein zweites freiwilliges öffentliches Übernahmeangebot zu einem Preis von 66,25 € je Aktie, mit einer Mindestannahmeschwelle von 63 % und einer Annahmefrist bis zum Ablauf des 16.8.2017. Am 18.8.2017 machte die Beklagte bekannt, dass die Mindestannahmeschwelle erreicht worden sei und sich eine weitere Annahmefrist bis zum Ablauf des 1.9.2017 ergebe. Die Klägerin nahm das Angebot an und reichte 295.500 Aktien ein. Die Abwicklung wurde am 22.8.2017 durchgeführt.

Nachdem S. am 24.8.2017 mittgeteilt hatte, dass die Beklagte an sie herangetreten sei, um sie über ihre Absicht zu informieren, einen Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag abzuschließen, schlossen die Beklagte und E., die zu diesem Zeitpunkt 13,26 % der S. -Aktien hielt, am 30.8.2017 einen als "Irrevocable Commitment" bezeichneten Vertrag in englischer Sprache (im Folgenden: IC). Darin verpflichtete sich E., in der Hauptversammlung der S. einem Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag u.a. dann zuzustimmen, wenn die darin festgelegte Abfindung für außenstehende Aktionäre mindestens 74,40 € je Aktie beträgt. Die Beklagte wollte sich mit dieser Vereinbarung die Zustimmung von E. zum Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag sichern, weil sie mit eigenen Stimmrechten eine Mehrheit von drei Vierteln des bei der Beschlussfassung vertretenen Kapitals nicht erreichen konnte.

Am 15.9.2017 brachte die Beklagte den von ihr gehaltenen Anteil von 65,82 % des Grundkapitals der S. in die N. GmbH ein. Diese schloss Ende Dezember 2017 einen Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag, in dem sich die N. GmbH verpflichtete, die Aktien der außenstehenden Aktionäre gegen eine Barabfindung von 74,40 € je Aktie zu erwerben. Die Hauptversammlung der S. stimmte dem Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag Anfang Februar 2018 zu. Der Vertrag wurde am 20.3.2018 in das Handelsregister eingetragen. Im Oktober 2018 veröffentlichte die Beklagte ein Übernahmeangebot zur Durchführung eines Delisting zu einem Preis von 81,73 € je Aktie, welches E. auf Grund einer zuvor abgeschlossenen Andienungsvereinbarung annahm. Die Klägerin verlangt von der Beklagten für die von ihr eingebrachten Aktien den Unterschiedsbetrag zwischen dem in dem Übernahmeangebot genannten Preis von 66,25 € je Aktie und der E. im IC zugesagten Mindestabfindung von 74,40 € je Aktie.

LG und OLG wiesen die Klage ab. Auf die Revision der Klägerin hob der BGH das Berufungsurteil auf und gab der Klage antragsgemäß statt.

Die Gründe:
Ein Anspruch auf den Unterschiedsbetrag zu der im IC in Aussicht gestellten Mindestabfindung kann weder verneint werden, weil die Beklagte mit E. keine einem Erwerb nach § 31 Abs. 3 bis 5 WpÜG gleichgestellte Vereinbarung nach § 31 Abs. 6 Satz 1 WpÜG geschlossen hat, noch ist ein sol-cher Anspruch ausgeschlossen, weil die Vereinbarung den Erwerb von Aktien im Zusammenhang mit einer gesetzlichen Verpflichtung zur Gewährung einer Ab-findung an Aktionäre nach § 31 Abs. 5 Satz 2 WpÜG betrifft.

Bei dem IC handelt es sich um eine einem Erwerb nach § 31 Abs. 3 bis 5 WpÜG gleichgestellte Vereinbarung nach § 31 Abs. 6 Satz 1 WpÜG. Eine Vereinbarung nach § 31 Abs. 6 Satz 1 WpÜG setzt nicht voraus, dass der Bieter die Übereignung von Aktien verlangen kann. Nach der überwiegenden Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum soll eine Vereinbarung, mit der der Bieter einem Aktionär der Zielgesellschaft ein Recht auf Andienung von Aktien der Zielgesellschaft einräumt oder eine auf die Abnahme der Aktien gerichtete Verpflichtung eingeht, allerdings nicht von § 31 Abs. 6 Satz 1 WpÜG erfasst sein. Teilweise wird die Anwendung der Vorschrift davon abhängig gemacht, ob das eingeräumte Andienungsrecht "im Geld" ist. Eine andere Ansicht hält es demgegenüber für unbeachtlich, ob der Bieter die Übereignung verlangen kann. Richtig ist die zuletzt genannte Auffassung.

Einer Anwendung von § 31 Abs. 5 Satz 1, Abs. 6 Satz 1 WpÜG steht es auch nicht entgegen, dass sich aus dem IC für keine der Vertragsparteien ein Anspruch auf Übereignung von Aktien der Zielgesellschaft ergibt, sondern ein solcher Anspruch vom Wirksamwerden eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrags und der Ausübung eines Andienungsrechts (§ 305 Abs. 1 AktG) abhängig war. Eine Vereinbarung ist bereits dann eine Grundlage für ein Übereignungsverlangen, wenn sie bei objektiver Betrachtung eine auf den Erwerb von Aktien der Zielgesellschaft gerichtete rechtsgeschäftliche Disposition des Bieters enthält, in der zum Ausdruck kommt, dass er bereit ist, eine Gegenleistung für den Aktienerwerb zu erbringen, die die nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 WpÜG angebotene Gegenleistung übersteigt. Diese Voraussetzungen liegen nach den Feststellungen des OLG vor.

Die Vereinbarung, mit der sich die Beklagte die Zustimmung eines Paketaktionärs zum Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag gesichert hat, wenn in diesem Vertrag eine bestimmte Mindestabfindung der außenstehen-den Aktionäre vorgesehen ist, enthält eine auf den Erwerb von Aktien gerichtete rechtsgeschäftliche Disposition der Beklagten, nachdem diese ihre Absicht zum Abschluss eines Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrags bekundet hat und die Vereinbarung dazu diente, sich die nach § 293 Abs. 1 Satz 2 AktG erforderliche Mehrheit zu sichern.

Das IC, der Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag und die Zustimmung der Hauptversammlung zu diesem Vertrag sind im Hinblick auf das nach § 305 Abs. 1 AktG einzuräumende Abfindungsoptionsrecht ein mehraktiger Vorgang, an dessen Ende der Erwerb der Aktien durch den Bieter stehen kann. Ob die für den Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag nach § 293 Abs. 1 Satz 2 AktG notwendige Mehrheit nur mit den Stimmen des Paketaktionärs zustande kommen konnte, ist unerheblich. Es genügt, dass das IC einen Erwerb der Aktien durch die Beklagte ermöglicht hat. Dadurch, dass die Beklagte sich mit der Vereinbarung die für die Zustimmung der Hauptversammlung erforderliche Mehrheit des Grundkapitals sicherte, erhielt sie die Gewissheit, durch den Abschluss des Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrags zu den vereinbarten Bedingungen das Andienungsrecht des Paketaktionärs und der übrigen außenstehenden Aktionäre gem. § 305 Abs. 1 AktG zu begründen.

Anders als die Beklagte meint, steht einer Berücksichtigung der in der Vereinbarung abgestimmten Mindestabfindung nicht entgegen, dass sie sich auf die Höhe der im beabsichtigten Beherrschungs- und Gewinnabführungsvertrag festzulegenden Abfindung bezog. Richtig ist zwar, dass sich die Angemessenheit der Abfindung gem. § 305 Abs. 1 AktG nicht an den Preisen orientieren muss, die von dem Bieter an andere Aktionäre gezahlt wurden oder werden, weswegen die dort erfolgende Bewertung von der Bewertung der nach § 31 WpÜG geschuldeten Gegenleistung abweichen kann. Darauf kommt es für die Anwendung von § 31 Abs. 6 Satz 1 WpÜG aber nicht an. Nach dem Normzweck ist es unerheblich, auf welche Grundlagen der Bieter seine Bewertung der Aktien stützt. Auch bei § 31 Abs. 5 Satz 1 WpÜG, vor dessen Umgehung § 31 Abs. 6 Satz 1 WpÜG schützt, kommt es auf die Bewertungsgrundlagen der für den Erwerb der Aktien vereinbarten oder gewährten Gegenleistung nicht an. Maßgebend ist, ob die für den Erwerb gewährte oder vereinbarte Gegenleistung höher ist als die im Angebot genannte.

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Aufsatz:
Öffentliche Übernahmen durch Finanzinvestoren
Matthias Kiesewetter / Nico Frehse, AG 2023, 230
AG0052742

Kommentierung | WPUEG
§ 31 Gegenleistung
Assmann/Pötzsch/Schneider, Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz, 3. Aufl.

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