Ausstellung einer Bordkarte nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet keine Masseverbindlichkeit
BGH v. 10.4.2025 - IX ZR 95/24
Der Sachverhalt:
Im August 2019 buchten die Kläger einen Flug von Frankfurt a.M. nach Cancún, Mexiko, für den 22.12.2019 mit einer Flugstrecke von mehr als 3.500 km. Die Landung in Cancún war planmäßig für 18:05 Uhr vorgesehen. Die Kläger bezahlten den Flugpreis. Die Beklagte bestätigte den Flug.
Am 1.12.2019 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Beklagten eröffnet und Eigenverwaltung angeordnet. Die Beklagte setzte den Flugbetrieb fort. Am Abflugtag verweigerte sie nach Ausstellung der Bordkarten den Kläger die Beförderung wegen Überbuchung des Flugs. Sie bot ihnen eine Ersatzbeförderung auf einem anderen Flug an, die diese annahmen. Die Kläger erreichten den Zielflughafen Cancún am 23.12.2019 um 00:15 Uhr.
Das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Beklagten wurde, nachdem ein Insolvenzplan zustande gekommen war, mit Beschluss vom 30.11.2020 aufgehoben. Der Insolvenzplan sieht für Insolvenzforderungen eine Quote von 0,1 % und Zusatzquoten vor. Ansprüche unter 10 € sind erst mit Fälligkeit der Zusatzquote zu zahlen. Die Kläger verlangen eine Ausgleichszahlung von 600 € pro Fluggast sowie Erstattung der Kosten der Sitzplatzreservierung für den ursprünglichen Flug, zudem Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten.
Das AG wies die Klage ab; das LG gab ihr ganz überwiegend statt. Auf die Revision der Beklagten, hob der BGH das Berufungsurteil auf und wies die Berufung gegen die Entscheidung des AG zurück.
Die Gründe:
Grundlage des klägerischen Begehrens ist hinsichtlich der Ausgleichszahlung Art. 4 Abs. 3, Art. 7 Abs. 1 Satz 1 Buchst. c, Abs. 2 Buchst. c Fluggastrechte-VO. Danach können Fluggäste bei Verweigerung der Beförderung zum Ausgleich der Unannehmlichkeit bei anderen als innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 3.500 km die Zahlung von 600 € verlangen; dies gilt auch dann, wenn das ausführende Luftfahrtunternehmen eine anderweitige Beförderung zum Endziel anbietet, die Ankunftszeit aber - wie hier - später als vier Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit des ursprünglich gebuchten Flugs liegt. Anspruchsgrundlage für frustrierte Sitzplatzreservierungen bei anderweitiger Beförderung zum Endziel ist § 284 BGB, Art. 12 Abs. 1 Satz 1 Fluggastrechte-VO.
Die auf dieser Grundlage geltend gemachten Ansprüche stellen nur Insolvenzforderungen nach § 38 InsO dar. Sie können gem. §§ 254, 254b InsO nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens nur nach Maßgabe des Insolvenzplans zuerkannt werden. Der Senat hat bereits entschieden, dass sich die Frage, ob Ansprüche, auch soweit Rechte nach der Fluggastrechte-VO inmitten stehen, Insolvenzforderungen oder Masseverbindlichkeiten darstellen, nach deutschem Insolvenzrecht richtet. Er hat ferner entschieden, dass die ursprünglichen Beförderungsansprüche aus einer vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfolgten Buchung Insolvenzforderungen i.S.v. § 38 InsO darstellen und nicht dem Wahlrecht der Beklagten aus §§ 279, 103 InsO unterfallen, wenn Reisende den Flugpreis vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens vollständig bezahlt haben. Beförderungsansprüche, die vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet worden sind, sind von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners an nicht mehr durchsetzbar. Sekundäransprüche, die aus der Nichterfüllung insolvenzbedingt nicht durchsetzbarer Ansprüche folgen, begründen keine Masseverbindlichkeiten.
So liegt der Fall vorliegend: Die ursprünglichen Beförderungsansprüche der Fluggäste aus ihrer Buchung im August 2019 wurden vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Beklagten begründet. Die Fluggäste hatten den Flugpreis vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens vollständig bezahlt. Bei der Verweigerung der Beförderung wegen Überbuchung handelt es sich um die Nichterfüllung eines insolvenzbedingt nicht durchsetzbaren Beförderungsanspruchs. Die geltend gemachten Ansprüche auf Ausgleichszahlung und auf Erstattung der Kosten für die Sitzplatzreservierung stellen deshalb Sekundäransprüche aus der Nichterfüllung eines nicht durchsetzbaren Beförderungsanspruchs und damit grundsätzlich Insolvenzforderungen dar.
Die Fortsetzung des Flugbetriebs wertet weder für sich genommen noch in Verbindung mit etwaigen Erklärungen der Beklagten, der Flugbetrieb werde fortgesetzt, Insolvenzforderungen zu Masseverbindlichkeiten auf. Der Umstand, dass der Flug als solcher durchgeführt wird, ist daher nicht geeignet, den Beförderungsanspruch einzelner Passagiere zu Masseforderungen aufzuwerten. Anders als das LG meint, sind die Beförderungsansprüche der Fluggäste (und damit auch Sekundäransprüche wegen Nichterfüllung) vorliegend auch nicht durch konkludente, die ursprüngliche Übereinkunft bestätigende Vereinbarung zu Masseverbindlichkeiten geworden (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 Variante 1 InsO). Zwar kann eine Insolvenzforderung durch Vereinbarung zwischen dem Insolvenzverwalter und dem Insolvenzgläubiger zu einer Masseverbindlichkeit werden. Eine solche Vereinbarung hat nicht nur für die Parteien der schuldumschaffenden Vereinbarung Auswirkungen, sondern auch für die übrigen Beteiligten des Insolvenzverfahrens. Vorliegend sind die Voraussetzungen einer schuldumschaffenden Vereinbarung aber nicht erfüllt. Insbesondere wertet die Ausgabe von Bordkarten nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Luftfahrtunternehmens einen als Insolvenzforderung zu qualifizierenden Beförderungsanspruch nicht zu einer Masseverbindlichkeit auf.
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BGH online
Im August 2019 buchten die Kläger einen Flug von Frankfurt a.M. nach Cancún, Mexiko, für den 22.12.2019 mit einer Flugstrecke von mehr als 3.500 km. Die Landung in Cancún war planmäßig für 18:05 Uhr vorgesehen. Die Kläger bezahlten den Flugpreis. Die Beklagte bestätigte den Flug.
Am 1.12.2019 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Beklagten eröffnet und Eigenverwaltung angeordnet. Die Beklagte setzte den Flugbetrieb fort. Am Abflugtag verweigerte sie nach Ausstellung der Bordkarten den Kläger die Beförderung wegen Überbuchung des Flugs. Sie bot ihnen eine Ersatzbeförderung auf einem anderen Flug an, die diese annahmen. Die Kläger erreichten den Zielflughafen Cancún am 23.12.2019 um 00:15 Uhr.
Das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Beklagten wurde, nachdem ein Insolvenzplan zustande gekommen war, mit Beschluss vom 30.11.2020 aufgehoben. Der Insolvenzplan sieht für Insolvenzforderungen eine Quote von 0,1 % und Zusatzquoten vor. Ansprüche unter 10 € sind erst mit Fälligkeit der Zusatzquote zu zahlen. Die Kläger verlangen eine Ausgleichszahlung von 600 € pro Fluggast sowie Erstattung der Kosten der Sitzplatzreservierung für den ursprünglichen Flug, zudem Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten.
Das AG wies die Klage ab; das LG gab ihr ganz überwiegend statt. Auf die Revision der Beklagten, hob der BGH das Berufungsurteil auf und wies die Berufung gegen die Entscheidung des AG zurück.
Die Gründe:
Grundlage des klägerischen Begehrens ist hinsichtlich der Ausgleichszahlung Art. 4 Abs. 3, Art. 7 Abs. 1 Satz 1 Buchst. c, Abs. 2 Buchst. c Fluggastrechte-VO. Danach können Fluggäste bei Verweigerung der Beförderung zum Ausgleich der Unannehmlichkeit bei anderen als innergemeinschaftlichen Flügen über eine Entfernung von mehr als 3.500 km die Zahlung von 600 € verlangen; dies gilt auch dann, wenn das ausführende Luftfahrtunternehmen eine anderweitige Beförderung zum Endziel anbietet, die Ankunftszeit aber - wie hier - später als vier Stunden nach der planmäßigen Ankunftszeit des ursprünglich gebuchten Flugs liegt. Anspruchsgrundlage für frustrierte Sitzplatzreservierungen bei anderweitiger Beförderung zum Endziel ist § 284 BGB, Art. 12 Abs. 1 Satz 1 Fluggastrechte-VO.
Die auf dieser Grundlage geltend gemachten Ansprüche stellen nur Insolvenzforderungen nach § 38 InsO dar. Sie können gem. §§ 254, 254b InsO nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens nur nach Maßgabe des Insolvenzplans zuerkannt werden. Der Senat hat bereits entschieden, dass sich die Frage, ob Ansprüche, auch soweit Rechte nach der Fluggastrechte-VO inmitten stehen, Insolvenzforderungen oder Masseverbindlichkeiten darstellen, nach deutschem Insolvenzrecht richtet. Er hat ferner entschieden, dass die ursprünglichen Beförderungsansprüche aus einer vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfolgten Buchung Insolvenzforderungen i.S.v. § 38 InsO darstellen und nicht dem Wahlrecht der Beklagten aus §§ 279, 103 InsO unterfallen, wenn Reisende den Flugpreis vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens vollständig bezahlt haben. Beförderungsansprüche, die vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet worden sind, sind von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners an nicht mehr durchsetzbar. Sekundäransprüche, die aus der Nichterfüllung insolvenzbedingt nicht durchsetzbarer Ansprüche folgen, begründen keine Masseverbindlichkeiten.
So liegt der Fall vorliegend: Die ursprünglichen Beförderungsansprüche der Fluggäste aus ihrer Buchung im August 2019 wurden vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Beklagten begründet. Die Fluggäste hatten den Flugpreis vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens vollständig bezahlt. Bei der Verweigerung der Beförderung wegen Überbuchung handelt es sich um die Nichterfüllung eines insolvenzbedingt nicht durchsetzbaren Beförderungsanspruchs. Die geltend gemachten Ansprüche auf Ausgleichszahlung und auf Erstattung der Kosten für die Sitzplatzreservierung stellen deshalb Sekundäransprüche aus der Nichterfüllung eines nicht durchsetzbaren Beförderungsanspruchs und damit grundsätzlich Insolvenzforderungen dar.
Die Fortsetzung des Flugbetriebs wertet weder für sich genommen noch in Verbindung mit etwaigen Erklärungen der Beklagten, der Flugbetrieb werde fortgesetzt, Insolvenzforderungen zu Masseverbindlichkeiten auf. Der Umstand, dass der Flug als solcher durchgeführt wird, ist daher nicht geeignet, den Beförderungsanspruch einzelner Passagiere zu Masseforderungen aufzuwerten. Anders als das LG meint, sind die Beförderungsansprüche der Fluggäste (und damit auch Sekundäransprüche wegen Nichterfüllung) vorliegend auch nicht durch konkludente, die ursprüngliche Übereinkunft bestätigende Vereinbarung zu Masseverbindlichkeiten geworden (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 Variante 1 InsO). Zwar kann eine Insolvenzforderung durch Vereinbarung zwischen dem Insolvenzverwalter und dem Insolvenzgläubiger zu einer Masseverbindlichkeit werden. Eine solche Vereinbarung hat nicht nur für die Parteien der schuldumschaffenden Vereinbarung Auswirkungen, sondern auch für die übrigen Beteiligten des Insolvenzverfahrens. Vorliegend sind die Voraussetzungen einer schuldumschaffenden Vereinbarung aber nicht erfüllt. Insbesondere wertet die Ausgabe von Bordkarten nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Luftfahrtunternehmens einen als Insolvenzforderung zu qualifizierenden Beförderungsanspruch nicht zu einer Masseverbindlichkeit auf.
Kommentierung | InsO
§ 38 Begriff der Insolvenzgläubiger
Ries in Kayser/Thole, Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 11. Aufl. 2023
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