29.07.2011

Berufungsgericht muss Zeugen bei abweichender Würdigung der Aussage vor dem erstinstanzlichen Gericht erneut vernehmen

Das Berufungsgericht hat einen Zeugen erneut zu vernehmen, wenn es dessen Aussage anders verstehen oder würdigen will als das erstinstanzliche Gericht. Eine erneute Vernehmung kann allenfalls dann unterbleiben, wenn sich das Berufungsgericht auf solche Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit seiner Aussage betreffen.

BGH 21.6.2011, II ZR 103/10
Der Sachverhalt:
Der Kläger war Geschäftsführer und zu 50 Prozent Gesellschafter der Beklagten. Wegen Meinungsverschiedenheiten mit dem anderen Geschäftsführer-Gesellschafter kam man überein, dass der Kläger seinen Geschäftsanteil veräußern solle. Dies geschah mit Vertrag vom 5.2.2009 zu einem Kaufpreis i.H.v. 1,285 Mio. €. In dem Vertrag ist nicht ausdrücklich geregelt, ob der Kläger weiter Geschäftsführer bleiben und sein Anstellungsvertrag fortbestehen sollte.

Am 13.2.2009 beschloss die Gesellschafterversammlung der Beklagten, den Kläger als Geschäftsführer abzuberufen und seinen Anstellungsvertrag aus wichtigem Grund fristlos, hilfsweise fristgerecht zu kündigen. Diese Erklärung ging dem Kläger am 16. Februar 2009 zu. Seit Mitte Februar 2009 zahlt die Beklagte dem Kläger kein Gehalt mehr.

Die Parteien streiten darum, ob im Zuge der Vertragsverhandlungen über die Veräußerung des Geschäftsanteils konkludent eine Vereinbarung des Inhalts zustande gekommen ist, dass mit seinem Ausscheiden als Gesellschafter auch der Anstellungsvertrag des Klägers als Geschäftsführer aufgehoben werde. Der Kläger hat die Feststellung begehrt, dass sein Anstellungsvertrag bis zum 31.12.2009 fortbestanden habe. Im Übrigen hat er beantragt, die Beklagte zur Zahlung seines Gehalts i.H.v. zuletzt insgesamt 145.664 € zu verurteilen.

Das LG wies die Klage nach Beweisaufnahme ab; das OLG gab ihr statt. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten hob der BGH das Berufungsurteil auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurück.

Die Gründe:
Das OLG hat nach dem Ergebnis der von dem LG durchgeführten Beweisaufnahme - abweichend vom LG - eine einvernehmliche Aufhebung des Anstellungsvertrags des Klägers nicht feststellen können. Die Nichtzulassungsbeschwerde sieht darin zu Recht eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör i.S.d. Art. 103 Abs. 1 GG. Das OLG durfte ohne erneute Vernehmung der Zeugen das Ergebnis der Beweisaufnahme nicht anders würdigen als das LG.

Grundsätzlich steht es zwar im Ermessen des Berufungsgerichts, ob es Zeugen, die in der Vorinstanz bereits vernommen worden sind, nach § 398 Abs. 1 ZPO erneut vernimmt. Das Berufungsgericht ist zur nochmaligen Vernehmung jedoch verpflichtet, wenn es die protokollierten Zeugenaussagen anders verstehen oder würdigen will als die Vorinstanz. Eine erneute Vernehmung kann in diesem Fall allenfalls dann unterbleiben, wenn sich das Berufungsgericht auf solche Umstände stützt, die weder die Urteilsfähigkeit, das Erinnerungsvermögen oder die Wahrheitsliebe des Zeugen noch die Vollständigkeit oder Widerspruchsfreiheit seiner Aussage betreffen.

Insbes. wenn das erstinstanzliche Gericht über streitige Äußerungen und die Umstände, unter denen sie gemacht worden sind, Zeugen vernommen hat und es auf Grund einer Würdigung der Aussagen zu einem bestimmten Ergebnis gekommen ist, kann das Berufungsgericht diese Auslegung nicht verwerfen und zum gegenteiligen Ergebnis kommen, ohne zuvor die Zeugen erneut vernommen zu haben. So hat der BGH etwa eine Pflicht zur nochmaligen Vernehmung eines Zeugen angenommen, wenn das erstinstanzliche Gericht die Worte "es war besprochen worden" dahin verstanden hat, der Zeuge habe damit ausdrücken wollen, die Parteien seien sich im Gespräch über den besprochenen Punkt einig geworden, während das Berufungsgericht diese Äußerung lediglich im Sinne einer ergebnislosen Erörterung werten will.

Vorliegend hat das OLG den Bekundungen der Zeugen ein anderes Gewicht und einen anderen Sinn beigemessen als das LG. So hat das LG die Aussage der Zeugin G dahin verstanden, dass die Parteien schlüssig ihren Willen zur Aufhebung der Geschäftsführerposition - und damit im Zweifel auch zur Aufhebung des Anstellungsvertrages - bekundet hätten. Das OLG meint dagegen, die Antwort des Klägers auf die Frage der Zeugin, was er nach seinem Ausscheiden aus der Beklagten machen werde, könne sich auch auf die Zeit nach dem 31.12.2009, dem Ende der Kündigungsfrist, bezogen haben.

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