03.12.2025

"Der Spiegel" mit erfolgreicher Verfassungsbeschwerde in Sachen Wirecard-Skandal

Dürfte die Presse eine Verdachtsberichterstattung immer nur dann veröffentlichen, wenn sie eine über den Anfangsverdacht hinausgehende Verurteilungswahrscheinlichkeit zu belegen vermag, wäre dies mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht vereinbar. Das gilt namentlich für eine Verdachtsberichterstattung über komplexe, auf Verschleierung angelegte Straftaten aus dem Bereich der Wirtschaftskriminalität.

BVerfG v. 3.11.2025 - 1 BvR 573/25
Der Sachverhalt:
Der Kläger im Ausgangsverfahren war im Wirecard-Konzern tätig. Er schied 2018 aus dem Konzern aus und wurde Geschäftsführer eines Startup-Unternehmens. Dieses Unternehmen hatte bis Ende März 2020 von einem Unternehmen des Wirecard-Konzerns einen Kredit i.H.v. 115 Mio. € erhalten. Dessen deklarierter Zweck war ein sog. Mercant Cash Advance (MCA-Geschäft), bei dem es sich um ein Zusatzprodukt zur eigentlichen Zahlungsabwicklung handelte, das höhere Margen versprach. Der Insolvenzverwalter der Wirecard AG sowie die Staatsanwaltschaft nahmen jedoch an, dass über das Vehikel der MCA-Geschäfte hunderte Millionen Euro veruntreut worden seien. Die Staatsanwaltschaft leitete u.a. gegen den Kläger im Zusammenhang mit dem "Wirecard-Skandal" ein Ermittlungsverfahren ein.

Die Beschwerdeführerin ist das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL. Sie hatte am 20./21.11.2020 und 5./6.2.2021 online sowie in der Printausgabe Artikel zum "Wirecard-Skandal" veröffentlicht, in denen sie auch über den Kläger berichtete und die Artikel mit nicht verpixelten Bildern des Klägers versah. Dieser nahm die Beschwerdeführerin gerichtlich auf Unterlassung der ihn im Zusammenhang mit Strafvorwürfen gegen seine Person identifizierenden Wort- und Bildberichterstattung in Anspruch.

Das LG gab der Klage statt. Das OLG bestätigte die Entscheidung im Berufungsverfahren. Es führte u.a. aus, da in beiden Artikeln zumindest der Verdacht geäußert werde, der Kläger sei in strafrechtlich relevanter Weise an der Begehung der geschilderten Taten beteiligt gewesen, seien die Grundsätze der Verdachtsberichterstattung entsprechend anwendbar. Deren Voraussetzungen seien allerdings nicht erfüllt.

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügte die Beschwerdeführerin die Verletzung ihrer Grundrechte auf Meinungs- und Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG durch die gerichtlichen Entscheidungen. Die Verfassungsbeschwerde war erfolgreich.

Die Gründe:
Der Eingriff in die Grundrechte der Beschwerdeführerin ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.

Im Hinblick auf die Wortberichterstattung vom 20./21.11.2020 genügte die Würdigung des OLG, dass die Verdachtsberichterstattung bereits deshalb unzulässig sei, weil es an einem hinreichenden Mindestbestand an Beweistatsachen fehle, nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Grundlegenden Bedenken begegnete hierbei insbesondere die Vorgehensweise, den erforderlichen Mindestbestand allein auf der Grundlage von Verdachtsstufen zu bestimmen. Denn die Zulässigkeit einer Verdachtsberichterstattung kann nicht allein davon abhängig gemacht werden, dass ein bestimmter Grad an Wahrscheinlichkeit für die Begründetheit des Verdachts spricht. Dürfte die Presse eine Verdachtsberichterstattung immer nur dann veröffentlichen, wenn sie eine über den Anfangsverdacht hinausgehende Verurteilungswahrscheinlichkeit zu belegen vermag, wäre dies mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht vereinbar. Das gilt namentlich für eine Verdachtsberichterstattung über komplexe, auf Verschleierung angelegte Straftaten aus dem Bereich der Wirtschaftskriminalität.

Zudem wurde in der angegriffenen Entscheidung nicht hinreichend berücksichtigt, dass das Interesse der Öffentlichkeit am Gegenstand der Berichterstattung bereits bei Bemessung der Sorgfaltsanforderungen gegenüber dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht abwägend zu berücksichtigen war und in der Regel umso stärker ausfällt, je mehr sich die Straftat durch die Art der Begehung oder die Schwere der Folgen über die gewöhnliche Kriminalität heraushebt. Bei dem Verdacht allgemeinschädlicher Wirtschaftsstraftaten steht in besonderer Weise derjenige im Blickfeld der Öffentlichkeit, dessen (objektive) Nähe zu den in Frage stehenden Ereignissen sich gerade aus einer beruflich hervorgehobenen Position und der damit verbundenen wirtschaftlichen Verantwortung ergibt. In diesem Fall traf es auf den Kläger zu.

Soweit es die Wortberichterstattung vom 5./6.2.2021 betraf, hielt bereits die in der angegriffenen Entscheidung erfolgte Sinnermittlung verfassungsrechtlicher Überprüfung nicht stand. Der Artikel vom 5./6.2.2021 thematisiert die Rolle des Klägers allenfalls vage und ohne erkennbare Zuordnung zu konkreten Vorgängen. Das OLG hat gleichwohl eine Verdachtsäußerung angenommen und sich u.a. darauf gestützt, dass der Kläger als eine der "Schlüsselpersonen des Skandals" und Teil eines "Netzwerks treuer Helfer" eines flüchtigen, ehemaligen Vorstandsmitglieds bezeichnet worden sei. Insoweit hat das OLG aber keine hinreichende Einordnung in den Kontext des Artikels vorgenommen.

Zudem hielt die Würdigung des OLG, bei den herangezogenen Formulierungen handele es sich jeweils um Tatsachenbehauptungen, verfassungsrechtlicher Überprüfung nicht stand. Die Formulierungen enthielten zwar faktische Elemente. Das OLG hat aber nicht berücksichtigt, dass der Artikel durch die verwendeten Formulierungen zu diesen Vorgängen Stellung bezogen und die Nähe des Klägers zu den fraglichen Ereignissen kritisch bewertet hatte. Die Textpassagen waren somit als Werturteil anzusehen, welches vom Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG umfasst ist. Letztlich hat das OLG auch in verfassungsrechtlich nicht tragfähiger Weise angenommen, dass die identifizierende Bildberichterstattung den Kläger in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletze.

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