30.01.2025

EuGH-Vorlage zu Art. 6 Abs. 1 EuInsVO

Der BGH hat dem EuGH zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts folgende Frage vorgelegt: Ist Art. 6 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2015/848 über Insolvenzverfahren dahingehend auszulegen, dass er in Ansehung der Anerkennung ausländischer Insolvenzverfahren einen konkludenten Verzicht der Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf den Grundsatz der Staatenimmunität für Klagen enthält, mit denen der Insolvenzverwalter nach Maßgabe des anwendbaren Insolvenzrechts geltend macht, Rechtshandlungen gegenüber einem Mitgliedstaat seien anfechtbar, weil sie die Gesamtheit der Gläubiger benachteiligen?

BGH v. 16.1.2025 - IX ZR 60/24
Der Sachverhalt:
Der Kläger ist Verwalter in dem Insolvenzverfahren über das Vermögen der O. GmbH (Schuldnerin). Er begehrt Rückzahlung von Umsatzsteuerzahlungen, die die Schuldnerin an den Beklagten, den Fiskus der Republik Polen, geleistet hat. Die Schuldnerin, deren Sitz sich in Deutschland befindet, stellte am 25.11.2021 beim AG Offenburg (Deutschland) einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über ihr Vermögen. Sie informierte den Beklagten mit Schreiben vom 29.11.2021 über diesen Insolvenzantrag. Die Schuldnerin leistete von ihrem Geschäftskonto an den Beklagten am 17.12.2021 eine Zahlung i.H.v. rd. 2,8 Mio. PLN und am 24.12.2021 eine Zahlung i.H.v. rd. 3,6 Mio. PLN. Beide Zahlungen betrafen in den Monaten Oktober und November 2021 begründete Umsatzsteuerverbindlichkeiten. Sie entstanden, weil die Schuldnerin außereuropäische Waren in das von ihr unterhaltene Logistikzentrum in Bielany/Polen eingeführt hatte. Das AG Offenburg eröffnete am 26.1.2022 das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schuldnerin in Eigenverwaltung und bestellte den Kläger zum Sachwalter. Zum 1.11.2022 hob das AG die angeordnete Eigenverwaltung auf und bestellte den Kläger zum Insolvenzverwalter.

Der Kläger ist der Ansicht, der Beklagte habe die erste Zahlung vollständig und die zweite Zahlung i.H.v. rd. 3 Mio. PLN, insgesamt also rd. 5,7 Mio. PLN, zur Masse zurückzuzahlen. Den restlichen Teil der zweiten Zahlung greift er nicht an, weil es sich bei der Umsatzsteuer insoweit aufgrund einer zwischenzeitlich erfolgten Bestellung des Klägers zum vorläufigen Sachwalter um Masseverbindlichkeiten handele. Der Beklagte rügt, er sei nach dem völkerrechtlichen Grundsatz der Staatenimmunität von der deutschen Gerichtsbarkeit befreit, weil er als Fiskus der Republik Polen im Rahmen der Einziehung der polnischen Umsatzsteuer hoheitlich gehandelt habe.

LG und OLG wiesen die Klage ab. Mit der Revision verfolgt der Kläger seine Anträge in vollem Umfang weiter. Der BGH hat das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH eine Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt.

Die Gründe:
Der Erfolg der Revision hängt von der Auslegung des Art. 6 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2015/848 über Insolvenzverfahren (im Folgenden: Europäische Insolvenzverordnung oder EuInsVO) ab. Vor einer Entscheidung über das Rechtsmittel des Klägers war deshalb das Verfahren auszusetzen und gem. Art. 267 Abs. 1 Buchst. b, Abs. 3 AEUV eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen.

Die Revision des Klägers beruft sich darauf, der Regelung des Art. 6 Abs. 1 EuInsVO könne die Bedeutung eines Verzichts auf den Grundsatz der Staatenimmunität entnommen werden. Allerdings kommt der EuInsVO nach Auffassung des Senats kein Anwendungsvorrang gegenüber den allgemeinen Regeln des Völkerrechts zu. Bei einem Konflikt mit Bestimmungen des sekundären Unionsrechts - wie der EuInsVO - bewendet es beim Vorrang der allgemeinen Regeln des Völkerrechts. Der Senat hält es jedoch für möglich, dass die Bestimmung des Art. 6 Abs. 1 EuInsVO einen konkludenten Verzicht der Mitgliedstaaten der EU auf den Grundsatz der Staatenimmunität für Klagen enthält, mit denen der Insolvenzverwalter nach Maßgabe des anwendbaren Insolvenzrechts geltend macht, Rechtshandlungen gegenüber einem Mitgliedstaat seien anfechtbar, weil sie die Gesamtheit der Gläubiger benachteiligen, jedenfalls insoweit, als es die Rückzahlung von Steuerzahlungen des Schuldners betrifft.

Das EU-Parlament und der Rat der EU haben die EuInsVO gestützt auf den AEUV, insbesondere auf Art. 81 AEUV, erlassen, dessen Vertragspartei auch Polen ist. Indem die Mitgliedstaaten die EU als supranationale Union gründen und ihr Hoheitsrechte übertragen (Art. 1 AUEV), stellen sie sich unter diese Herrschaft in dem Maß, den das Vertragswerk festschreibt. Über die Frage, ob Art. 6 Abs. 1 EuInsVO dahingehend auszulegen ist, dass er in Ansehung der Anerkennung ausländischer Insolvenzverfahren einen konkludenten Verzicht auf den Grundsatz der Staatenimmunität enthält, besteht ein Meinungsstreit. Insoweit ist die richtige Anwendung des Unionsrechts nicht derart offenkundig, dass für vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt.

Daher wird dem EuGH zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts folgende Frage vorgelegt:

Ist Art. 6 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2015/848 über Insolvenzverfahren dahingehend auszulegen, dass er in Ansehung der Anerkennung ausländischer Insolvenzverfahren einen konkludenten Verzicht der Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf den Grundsatz der Staatenimmunität für Klagen enthält, mit denen der Insolvenzverwalter nach Maßgabe des anwendbaren Insolvenzrechts geltend macht, Rechtshandlungen gegenüber einem Mitgliedstaat seien anfechtbar, weil sie die Gesamtheit der Gläubiger benachteiligen?

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