28.02.2020

Haftung der Benannten Stelle gegenüber Patientinnen wegen des Austauschs von Silikonbrustimplantaten des französischen Herstellers PIP?

Der BGH hat sich mit den rechtlichen Voraussetzungen einer Haftung der "Benannten Stelle" i.S.d. harmonisierten Medizinprodukterechts gegenüber Patientinnen für die Folgen der Verwendung von Silikonbrustimplantaten des französischen Unternehmens Poly Implant Prothèse (PIP) befasst. Danach kommt zwar keine vertragliche, aber eine deliktische Haftung der "Benannten Stelle" in Betracht.

BGH v. 27.2.2020 - VII ZR 151/18
Der Sachverhalt:
Die Klägerin, eine Krankenkasse, macht geltend, sie habe die Kosten für Revisionsoperationen bei ihr gesetzlich versicherter Patientinnen getragen, denen Silikonbrustimplantate des Herstellers PIP eingesetzt worden seien. Sie nimmt aus übergegangenem Recht die Beklagte, die von 1997 bis 2010 als Benannte Stelle im Auftrag von PIP bei dem vom Hersteller durchzuführenden EU-Konformitätsbewertungsverfahren nach Anhang II der Richtlinie 93/42/EWG mitwirkte, auf Erstattung dieser Kosten in Anspruch. Die Beklagte führte von 1997 bis 2010 als Benannte Stelle die Bewertung des Qualitätssicherungssystems und die Prüfung der Auslegungsdokumentation der PIP durch. Die Durchführung dieses Konformitätsbewertungsverfahrens berechtigte PIP als Hersteller von Medizinprodukten, auf richtlinienkonform gefertigten Brustimplantaten ein CE-Kennzeichen anzubringen, und ist nach § 6 Abs. 1 MPG Voraussetzung dafür, dass Medizinprodukte in Deutschland in den Verkehr gebracht werden dürfen.

Die für PIP zuständige französische Aufsichtsbehörde stellte im März 2010 fest, dass dort nicht das eigentlich vorgesehene Rohmaterial für die Implantate verwendet wurde, sondern nicht für den menschlichen Körper zugelassenes Industriesilikon. Bei den Untersuchungen stellte sich heraus, dass PIP vor Kontrollen der französischen Behörden und Überprüfungen durch die Beklagte den Herstellungsprozess auf den zertifizierten Ablauf mit der Verwendung des zugelassenen Silikons umgestellt und sämtliche Hinweise auf die Verwendung von Industriesilikon verborgen hatte. PIP meldete im Jahr 2011 Insolvenz an und wurde liquidiert. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) empfahl Anfang 2012 die Entfernung der betroffenen Silikonbrustimplantate als Vorsichtsmaßnahme.

Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Zahlung von rd. 50.000 € nebst Zinsen. Nach ihrem Vortrag hat sie in 26 Fällen Operationskosten für bei ihr versicherte Frauen erstattet, denen in den Jahren 2003 bis 2010 von PIP hergestellte Silikonbrustimplantate eingesetzt worden seien und die aufgrund der Empfehlung des BfArM diese Implantate hätten entfernen lassen. Darüber hinaus erstrebt sie die Feststellung, dass die Beklagte zum Ersatz eines weitergehenden Schadens verpflichtet ist, auch soweit bislang noch nicht bekannt gewordene Versicherte betroffen sind.

LG und OLG wiesen die Klage ab. Auf die Revision der Klägerin hob der BGH das Berufungsurteil auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurück.

Die Gründe:
Das OLG hat keine Feststellungen zu einer Pflichtverletzung der Beklagten getroffen, sondern deren Haftung bereits aus Rechtsgründen abgelehnt. Die Frage der rechtlichen Voraussetzungen für eine Haftung der Benannten Stelle bedurfte deshalb einer Entscheidung: Das OLG hat hier jedenfalls die Möglichkeit einer deliktischen Haftung zu Unrecht schon aus Rechtsgründen verneint.

Im Ergebnis mit Recht hat das OLG allerdings angenommen, dass eine Haftung der Beklagten nach den Grundsätzen eines Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter ausscheidet, weil die rechtlichen Voraussetzungen für die Einbeziehung der Versicherten der Klägerin in den Schutzbereich des zwischen PIP und der Beklagten geschlossenen Zertifizierungsvertrages nicht vorliegen. Es erscheint bereits fraglich, ob die hierfür notwendige Leistungs- bzw. Einwirkungsnähe der Versicherten der Klägerin mit den Leistungen dieses Vertrages gegeben ist. Jedenfalls liegt kein schutzwürdiges Interesse des Gläubigers PIP an der Einbeziehung der Versicherten der Klägerin in den Schutzbereich des Vertrages vor.

Allerdings kann eine Haftung der Beklagten nach § 823 Abs. 2 BGB mit der vom OLG gegebenen Begründung nicht verneint werden. Bei der im MPG getroffenen Regelung zum EU-Konformitätsbewertungsverfahren und den Rechten und Pflichten der Benannten Stelle bei Medizinprodukten der Klasse III in § 6 Abs. 1 und 2 i.V.m. § 37 MPG, § 7 Abs. 1 Nr. 1 der Verordnung über Medizinprodukte (MPV) und Anhang II der Richtlinie 93/42/EWG handelt es sich um ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB. Die hier maßgebliche Regelung zum EU-Konformitätsbewertungsverfahren soll gerade dem Schutz der Gesundheit der Endempfänger der Medizinprodukte dienen; der Individualschutz der einzelnen Patienten steht im Vordergrund. Die Gewährleistung dieses Schutzes obliegt dabei nicht allein dem Hersteller selbst, sondern auch der Benannten Stelle. Ungeachtet ihrer Beauftragung durch den Hersteller hat die Benannte Stelle unter Berücksichtigung ihrer in der Richtlinie 93/42/EWG festgeschriebenen Rechte und Pflichten eine von ihrem Auftraggeber unabhängige Stellung und dient mit ihrer Prüfungstätigkeit nicht nur dem Hersteller, sondern gerade auch den Endempfängern der Medizinprodukte.

Eine solche deliktische Haftung der Benannten Stelle ist auch sinnvoll und im Lichte des haftungsrechtlichen Gesamtsystems tragbar. Die Ablehnung einer deliktischen Haftung der Benannten Stelle bei schuldhaften Pflichtverletzungen würde den Sinn und Zweck des Konformitätsbewertungsverfahrens, das in der europäischen Konzeption des Medizinprodukterechts an die Stelle eines behördlichen Zulassungsverfahrens tritt, infrage stellen und seine Bedeutung entwerten. Angesichts der mit der Verwendung fehlerhafter Medizinprodukte zusammenhängenden Gesundheitsgefahren ist die Schaffung eines individuellen Schadensersatzanspruchs gegen die Benannte Stelle auch aus diesem Grunde sinnvoll. Zur Verhinderung von dem Zweck des Konformitätsbewertungsverfahrens zuwiderlaufenden Anreizen besteht die Notwendigkeit, dass die Benannte Stelle nicht nur dem Risiko einer vertraglichen Haftung gegenüber dem Hersteller im Falle einer zu strengen Prüfung ausgesetzt ist, sondern ebenfalls dem Risiko einer deliktischen Inanspruchnahme durch Dritte bei einer nachlässigen Prüfung.

Das OLG wird nun im zweiten Rechtsgang Feststellungen zu treffen haben, ob die Voraussetzungen für eine deliktische Haftung der Beklagten im Übrigen - insbesondere also eine relevante Pflichtverletzung bei der Vornahme ihrer Zertifizierungsleistungen - vorliegen.

Hintergrund:
In seinem früherem Urteil vom 22.6.2017 (VII ZR 36/14) hatte der VII. Zivilsenat auf der Grundlage eines Vorabentscheidungsersuchens an den EuGH und dessen daraufhin ergangenen Urteils vom 16.2.2017 (C-219/15) dahinstehen lassen, ob eine vertragliche oder deliktische Haftung der Benannten Stelle gegenüber Patientinnen, denen Implantate von PIP eingesetzt wurden, überhaupt in Betracht kommt. Im damaligen Fall schied eine Verantwortung der Beklagten nach den revisionsrechtlich maßgeblichen Feststellungen jedenfalls mangels Pflichtverletzung aus.
BGH PM Nr. 23 vom 27.2.2020
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