23.06.2025

Haftung für Impfstoffe: Ab wann gilt die Ausschlussfrist bei progressiven Schäden?

Nach Ansicht der Generalanwältin verstößt die unbedingte Anwendung einer Ausschlussfrist von zehn Jahren bei progressiven Schäden bei der Haftung für Impfstoffe gegen die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. In solchen Fällen sollten die Rechtsbehelfsfristen ab dem Zeitpunkt gelten, zu dem sich der Krankheitszustand des Betroffenen stabilisiert (nicht mehr weiterentwickelt).

EuGH, C-338/24: Schlussanträge der Generalanwältin vom 19.6.2025
Der Sachverhalt:
Eine Angestellte in Frankreich erhielt im März 2003 eine Impfung mit dem Impfstoff Revaxis von Sanofi Pasteur gegen Diphtherie, Tetanus und Poliomyelitis. Ab 2004 trat bei ihr eine Reihe anhaltender Beschwerden auf, die nach einer Muskelbiopsie im Jahr 2008 einem im Impfstoff enthaltenen Bestandteil zugeordnet wurden. Im September 2016 wurde in einem Gutachten festgestellt, dass sich ihr Zustand stabilisiert hat und dass nicht gefolgert werden kann, dass die Impfung für ihre Erkrankung kausal ist.

Die Betroffene verklagte Sanofi Pasteur unter Geltendmachung sowohl der Verschuldenshaftung als auch der Haftung für fehlerhafte Produkte. Die nationalen Gerichte wiesen ihre Ansprüche jedoch als verjährt ab, was in der Berufungsinstanz weitgehend bestätigt wurde, bis die Cour de cassation (Kassationsgerichtshof) das Berufungsurteil am 5.7.2023 aufhob und entschied, dass bei progressiven Schäden die Verjährungsfrist erst zu laufen beginnt, wenn sich der Schaden stabilisiert hat. Die Sache ist nunmehr bei der Cour d"appel de Rouen (Berufungsgericht Rouen), dem vorlegenden Gericht, anhängig.

Das vorlegende Gericht stellt dem Gerichtshof Fragen zur Produkthaftungsrichtlinie.

In ihren Schlussanträgen vertritt die Generalanwältin die Ansicht, dass bei progressiven Schäden die unbedingte Anwendung einer Ausschlussfrist von zehn Jahren bei der Haftung für Impfstoffe gegen die Charta der Grundrechte der Europäischen Union verstößt. In solchen Fällen sollten die Rechtsbehelfsfristen ab dem Zeitpunkt gelten, zu dem sich der Krankheitszustand des Betroffenen stabilisiert (nicht mehr weiterentwickelt).

Die Gründe:
Die Produkthaftungsrichtlinie erlaubt es einem Geschädigten, einen Hersteller nach gewöhnlichen, auf Verschulden beruhenden nationalen Vorschriften zu verklagen, sofern sich der Anspruch nicht allein auf den Fehler des Produkts beschränkt. Hersteller können z.B. dann für schuldig befunden werden, wenn sie ein Produkt auf dem Markt halten, nachdem sie erfahren haben, dass es gefährlich ist, oder wenn sie Warnungen über seine Risiken außer Acht lassen.

Zur Klagefrist und zur unbedingten Anwendung der zehnjährigen Ausschlussfrist nach Art. 11 der Produkthaftungsrichtlinie auf alle Geschädigten ist festzustellen, dass ihre Anwendung ohne Berücksichtigung der besonderen Situation von Personen, die an einer progressiven Krankheit leiden, deren Erkrankung sich vor Ablauf dieser Frist nicht stabilisiert hat, den Wesensgehalt des durch die Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf missachtet.

Art. 10 Abs. 1 der Produkthaftungsrichtlinie ist in der gesamten Union autonom und einheitlich auszulegen, da diese Bestimmung die Festlegung des Beginns der Verjährungsfrist nicht dem Recht der Mitgliedstaaten überlässt. Die Verknüpfung der dreijährigen Verjährungsfrist mit der "Kenntnis" des Geschädigten ist daher so zu verstehen, dass dem Geschädigten der Beweis aller für eine vollständige Entschädigung erforderlichen Bestandteile - Schaden, Fehler und ursächlicher Zusammenhang - ermöglicht wird. Zwar kann für nicht progressive Schäden ein früher Zeitpunkt des Auftretens von Symptomen ausreichen, doch können Opfer progressiver Krankheiten Art und Ausmaß ihres Schadens nicht beurteilen, bis anhand medizinischer Beweise erwiesen ist, dass sich ihr Zustand stabilisiert hat.

Ließe man die Frist früher beginnen, würden die Betroffenen davon abgehalten, rechtzeitig Klage zu erheben, oder dazu gezwungen, partiell Klage zu erheben, was den effektiven gerichtlichen Rechtsschutz beeinträchtigen und je nach den nationalen Verfahrensvorschriften zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würde. Um das Ziel der Richtlinie zu erreichen, die Verbraucher zu schützen und das in der Charta verankerte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf zu wahren, darf die Verjährungsfrist nicht vor dem Zeitpunkt der Stabilisierung beginnen, der als der Zeitpunkt definiert wird, zu dem sich der Krankheitszustand des Betroffenen nicht mehr weiterentwickelt.

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