26.01.2023

Inkongruente Herstellung einer Aufrechnungslage?

Die Herstellung einer Aufrechnungslage ist nicht allein deshalb inkongruent, weil die Aufrechnungsbefugnis in den letzten drei Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet worden ist.

BGH v. 8.12.2022 - IX ZR 175/21

Der Sachverhalt:
Die Parteien streiten um die insolvenzrechtliche Wirksamkeit einer Aufrechnung. Der Beklagte ist Verwalter in dem Insolvenzverfahren über das Vermögen der W. GmbH. Die W. betrieb eine Papierfabrik. Der Beklagte führte das Unternehmen der W. im Eröffnungsverfahren fort. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens verkaufte er das Unternehmen an die P. GmbH (Schuldnerin), die zunächst noch unter der Bezeichnung N. GmbH firmierte. Der Vertrag über den Verkauf des Unternehmens nahm bereits fertig gestellte Waren von der Veräußerung aus. Die Vertragsparteien vereinbarten im Unternehmenskaufvertrag, dass die Schuldnerin die Auslieferung der nicht mitverkauften Fertigwaren für den Beklagten durchführen sollte. Als Gegenleistung für die Auslieferung wurde eine "Handling Fee" i.H.v. 170.000 € zzgl. der gesetzlichen Umsatzsteuer (= 202.300 € brutto) vereinbart. Zur Auslieferung von Fertigwaren kam es ab dem 23.2.2016. Die dadurch entstandene "Handling Fee" ist Gegenstand der vorliegenden Klage.

Der Beklagte ist der Ansicht, der Anspruch auf die "Handling Fee" sei infolge Aufrechnung erloschen. Das hat folgenden Hintergrund: Der Kaufpreis für das Unternehmen der W. (ohne Grundstück und aufstehende Gebäude) betrug (vorläufig) 6,7 Mio. € und sollte ursprünglich am 19.2.2016 fällig werden. Am 23.2.2016 regelten die Vertragsparteien die Fälligkeit abweichend dahingehend, dass der Kaufpreis i.H.v. 1 Mio. € am 23.2. und in Höhe der restlichen 5,7 Mio. € am 18.3.2016 fällig sein sollte. Die Schuldnerin zahlte 1 Mio. €. Vor Fälligkeit des Restbetrags stellte sie am 15.3.2016 Insolvenzantrag. Das Insolvenzverfahren wurde am 23.5.2016 eröffnet, der Kläger wurde zum (Sonder-)Insolvenzverwalter bestellt. Der Beklagte meldete die offengebliebene Kaufpreisforderung aus dem Unternehmenskaufvertrag in mehreren Teilbeträgen zur Tabelle an. Die Teilforderung für die immateriellen Vermögensgegenstände i.H.v. 500.000 € wurde zur Tabelle festgestellt. Mit einem (erstrangigen) Teilbetrag dieser Forderung hat der Beklagte die Aufrechnung gegen die streitgegenständliche "Handling Fee" erklärt.

Das LG wies die Klage aufgrund der Aufrechnung ab. Das OLG hielt die Aufrechnung für insolvenzrechtlich unwirksam und gab der Klage statt. Auf die Revision des Beklagten honb der BGH das Berufungsurteil auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurück.

Die Gründe:
Die vom Beklagten erklärte Aufrechnung mit einem (erstrangigen) Teilbetrag der zur Tabelle festgestellten Kaufpreisforderung für die immateriellen Vermögensgegenstände i.H.v. 500.000 € scheitert nicht an § 96 Abs. 1 Nr. 3, § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO. Es fehlt an einer inkongruenten Sicherung oder Befriedigung.

Im Streitfall sind sowohl der streitgegenständliche Anspruch auf die "Handling Fee" als auch die zur Aufrechnung gestellte Teilkaufpreisforderung aus dem geschlossenen Unternehmenskaufvertrag und damit aus einem einheitlichen Vertragsverhältnis erwachsen. Der Vertrag regelt eine Aufrechnungsbeschränkung gegen Zahlungsansprüche des Beklagten dahingehend, dass eine Aufrechnung nur mit unbestrittenen oder rechtskräftig festgestellten Gegenansprüchen der Schuldnerin gestattet ist. Eine Aufrechnung durch den Beklagten gegen den Anspruch auf die "Handling Fee" ist hingegen nicht beschränkt oder gar ausgeschlossen. Dass der Anspruch auf die "Handling Fee" und die zur Aufrechnung gestellte Teilkaufpreisforderung aus einem einheitlichen Vertragsverhältnis erwachsen sind, hat auch das OLG gesehen. Es hat die Herstellung der Aufrechnungslage gleichwohl für inkongruent gehalten, weil der Unternehmenskaufvertrag innerhalb der kritischen Zeit des § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO geschlossen worden sei. Diese Ansicht trifft nicht zu.

Die Herstellung einer Aufrechnungslage ist nicht allein deshalb inkongruent, weil die Aufrechnungsbefugnis in den letzten drei Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründet worden ist. Anders als im Falle der Einzelzwangsvollstreckung tritt die Befugnis des Gläubigers, sich in der kritischen Zeit durch Aufrechnung zu befriedigen, nicht hinter den Schutz der Gläubigergesamtheit zurück. Zwar kommen die Rechtsfolgen einer Aufrechnung im wirtschaftlichen Ergebnis einer (Einzel-)Zwangsvollstreckung gleich. Die Aufrechnung unterliegt jedoch eigenständigen insolvenzrechtlichen Regelungen (§§ 94 ff InsO). Insbesondere wird eine zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bestehende Aufrechnungslage durch das Verfahren im Grundsatz nicht berührt (vgl. § 94 InsO). Im Gegensatz zur Einzelzwangsvollstreckung ist daher die Annahme einer durch den Anfechtungstatbestand des § 131 InsO vermittelten Vorwirkung des Grundsatzes der Gläubigergleichbehandlung nicht gerechtfertigt. Die Inkongruenz der Einzelzwangsvollstreckung beruht auf den vom Gläubiger in Anspruch genommenen hoheitlichen Zwangsmitteln.

Die Begründung der Aufrechnungsbefugnis - hier durch den Unternehmenskaufvertrag, aus dem sowohl Haupt- als auch Gegenforderung erwachsen sind - ist auch nicht selbständig anfechtbar. Anders als in den Fällen einer Aufrechnungs- oder einer Kongruenzvereinbarung wird weder eine von § 387 BGB abweichende Auf- oder Verrechenbarkeit durch Parteivereinbarung hergestellt noch eine zuvor nicht gegebene Kongruenz. Die Aufrechnungsbefugnis ist lediglich ein Wertungskriterium, anhand dessen beurteilt wird, ob der Insolvenzgläubiger einen Anspruch auf Herstellung der Aufrechnungslage hatte, oder ob dies nicht der Fall war. Es fehlt daher an einer für sich genommen anfechtbaren Rechtshandlung. Die Beantwortung der Frage, ob die Begründung einer Aufrechnungslage zu einer kongruenten oder einer inkongruenten Deckung führt, richtet sich allein nach den vom BGH hierzu entwickelten Grundsätzen. Das angefochtene Urteil war nach alldem aufzuheben. Das OLG hat die Unzulässigkeit der Aufrechnung gem. § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO bislang nicht unter dem vom Kläger geltend gemachten Gesichtspunkt einer Anfechtbarkeit nach § 130 Abs. 1 Satz 1 InsO geprüft.

Mehr zum Thema:

Rechtsprechung:
Zur Aufrechnung im Insolvenzverfahren
BFH vom 03.08.2022 - XI R 44/20
ZIP 2023, 197

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