22.05.2012

Inkrafttreten der Einführung einer gesetzlichen Preisansagepflicht bei Call-by-Call-Gesprächen aufgeschoben

Das Gebot effektiven Grundrechtsschutzes kann es rechtfertigen, eine einstweilige Anordnung gegen ein vom Bundespräsidenten ausgefertigtes Gesetz schon vor dessen Verkündung zu erlassen. Jedenfalls vor dem Zustandekommen des Gesetzes nach Art. 78 GG dürfen von einem Unternehmen im Regelfall keine schwer rückgängig zu machenden Umstrukturierungen oder umfangreichen Investitionen im Hinblick auf beabsichtigte neue gesetzliche Anforderungen an die Berufsausübung erwartet werden.

BVerfG 4.5.2012, 1 BvR 367/12
Hintergrund:
§ 66b Abs. 1 TKG in seiner derzeit geltenden Fassung enthält eine Pflicht, vor Beginn eines Telefongesprächs über die anfallenden Entgelte zu informieren, lediglich bei sog. Premium-Diensten. Ein Verstoß gegen diese Pflicht führt zum Wegfall des Entgeltanspruchs (§ 66g Nr. 1 TKG) und kann überdies als Ordnungswidrigkeit geahndet werden (§ 149 Abs. 1 Nr. 13d TKG).

Das am 9.2.2012 vom Deutschen Bundestag beschlossene Gesetz zur Änderung telekommunikationsrechtlicher Reglungen, dem der Bundesrat am 10.2.2012 zugestimmt hat, erstreckt die Preisansagepflicht des § 66b Abs. 1 TKG auch auf sog. Call-by-Call-Gespräche. Die Anbieter von Call-by-Call-Gesprächen müssen zukünftig vor Beginn eines solchen Gesprächs über den geltenden Tarif informieren. Im Falle eines Tarifwechsels während eines laufenden Gesprächs muss der Kunde hierüber aufgeklärt werden. Die Neuregelung soll einen Tag nach der Verkündung des Gesetzes in Kraft treten. Der Bundespräsident hat das Gesetz am 3.5.2012 ausgefertigt.

Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin bietet Telekommunikationsdienste, u.a. Call-by-Call-Gespräche, an. Mit ihrer bereits im Februar 2012 erhobenen Verfassungsbeschwerde und ihrem gleichzeitig gestellten Eilantrag rügt sie eine Verletzung ihrer Grundrechte auf freie Berufsausübung, auf Eigentum und auf wirtschaftliche Handlungsfreiheit dadurch, dass die Preisansagepflicht ohne jede Übergangsfrist in Kraft treten soll. Eine Implementierung der vorgeschriebenen Preisansagen sei ihr bis zu dem zu erwartenden Zeitpunkt des Inkrafttretens nicht möglich. Die Pflicht zur Preisansage vor Beginn eines Gesprächs könne sie frühestens Ende März 2012 und diejenige vor einem Tarifwechsel frühestens im August 2012 erfüllen.

Das BVerfG gab dem Eilantrag überwiegend statt.

Die Gründe:
Im Wege der einstweiligen Anordnung wird entschieden, dass die durch die Neufassung des § 66b Abs. 1 TKG eingeführte Preisansagepflicht bei Call-by-Call-Gesprächen nicht vor dem 1.8.2012 in Kraft tritt.

Das BVerfG kann eine einstweilige Anordnung ausnahmsweise bereits vor der Verkündung des angegriffenen Gesetzes erlassen, wenn das Gesetzgebungsverfahren vor Bundestag und Bundesrat vollständig abgeschlossen ist, die Prüfungskompetenz des Bundespräsidenten vor der Ausfertigung respektiert wird und das Inkrafttreten der Vorschriften so zeitnah nach der Verkündung zu erwarten ist, dass effektiver einstweiliger Grundrechtsschutz nicht erlangt werden kann. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Da § 66b Abs. 1 TKG in seiner geänderten Fassung am Tag nach der Verkündung in Kraft treten soll, könnte mit einem erst nach der Verkündung gestellten Eilantrag effektiver Grundrechtsschutz nicht sichergestellt werden. Die Beschwerdeführerin müsste gravierende Nachteile jedenfalls für eine Übergangszeit in Kauf nehmen.

Es spricht vorliegend viel dafür, dass der Gesetzgeber das Inkrafttreten der in die Berufsausübungsfreiheit eingreifenden Preisansagepflicht zur Wahrung des Grundrechts der Verpflichteten aus Art. 12 Abs. 1 GG auf einen späteren Zeitpunkt hätte festlegen müssen. Die Notwendigkeit einer Übergangsregelung, insbes. eines späteren Inkrafttretens des neuen Rechts, kommt in Fällen in Betracht, in denen die Beachtung neuer Berufsausübungsregelungen nicht ohne zeitaufwändige und kapitalintensive Umstellungen des Betriebsablaufs möglich ist und der Grundrechtsträger deshalb seine Berufstätigkeit bei unmittelbarem Inkrafttreten der Neuregelung zeitweise einstellen müsste oder aber nur zu unzumutbaren Bedingungen fortführen könnte. So verhält es sich hier.

Die Beschwerdeführerin hat plausibel dargelegt, dass sie und andere Anbieter von Call-by-Call-Gesprächen die neuen Preisansagepflichten erst in mehreren Monaten vollständig realisieren können. Demgegenüber ist nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber eine Übergangsfrist deshalb für entbehrlich halten durfte, weil die Einführung der Preisansage aus Verbraucherschutzgründen so dringlich war, dass das Interesse der Call-by-Call-Anbieter an einer Übergangsfrist in jedem Fall dahinter zurücktreten musste. Zumindest vor dem Zustandekommen des Gesetzes dürfen vom Grundrechtsträger im Regelfall keine schwer rückgängig zu machende Umstrukturierungen oder gar umfangreiche Investitionen im Hinblick auf eine anstehende Neuregelung erwartet werden.

Die der Beschwerdeführerin - und voraussichtlich einer Reihe weiterer Anbieter von Call-by-Call-Gesprächen - drohenden Nachteile bei sofortigem Inkrafttreten der Preisansagepflicht überwiegen die Risiken, die für die Verbraucher aus einem begrenzten Verschieben des Inkrafttretens resultieren. Die Beschwerdeführerin wäre bei einem sofortigen Inkrafttreten der Preisansagepflicht vorübergehend zu Umstellungen in ihrem Geschäftsmodell gezwungen, deren wirtschaftliche Auswirkungen voraussichtlich erheblich, im Einzelnen jedenfalls schwer abschätzbar sind. Zwar ist der Beschwerdeführerin mittlerweile die Realisierung der Preisvoransage gelungen. Von erheblichem Gewicht sind jedoch die Nachteile, die daraus resultieren, dass sie die gebotene Preiszwischenansage frühestens Ende Juli 2012 funktionsfähig installiert haben kann.

Demgegenüber wiegen die Risiken, die den Verbrauchern entstehen, wenn die Preisansagepflicht vorübergehend nicht in Kraft tritt, weit weniger schwer. Zwar ist nicht auszuschließen, dass einzelne Call-by-Call-Anbieter unter Fortgeltung der bisherigen Rechtslage kurzfristig ihre Preise in der Hoffnung auf die Unkenntnis ihrer Kunden erhöhen. Es finden sich jedoch keine Anhaltspunkte für eine ernsthafte und generelle Gefährdung der Verbraucher, die ein sofortiges Handeln des Gesetzgebers unverzichtbar erscheinen ließen.

Linkhinweis:

  • Der Volltext ist auf der Homepage des BVerfG veröffentlicht.
  • Um direkt zum Volltext zu kommen, klicken Sie bitte hier.
BVerfG PM Nr. 27 vom 4.5.2012 und Nr. 32 vom 21.5.2012
Zurück