Meinungsfreiheit - Republik Moldau: Anordnung zur Löschung von Videos auf Facebook-Seite
EGMR v. 5.6.2025 - 9989/20
Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin ist Rechtsanwältin und insbesondere für ihre Tätigkeit im Bereich der Verteidigung der Rechte von LGBTQ+-Personen bekannt. Im Mai 2017 - während der Pride-Woche - wurde sie nach ihren Angaben von P., einem Rechtsanwalt und Universitätsprofessor, dessen Wohnung sich in der Nähe ihres Büros befindet, wegen ihrer LGBTQ+-Arbeit verbal angegriffen, beleidigt und bedroht. Sie nahm mehrere Videos von dem Vorfall auf, die nicht veröffentlicht wurden. Bei weiteren vergleichbaren Vorfällen in den folgenden Tagen nahm sie erneut Videos auf, in denen P. erkennbar sichtbar war, die sie nunmehr auf ihrer Facebook-Seite veröffentlichte, wo sie nach ihren Angaben von etwa sechzigtausend Personen angesehen wurden. Die Videos wurden auch von mehreren Medien aufgegriffen und weiterverbreitet und lösten eine starke öffentliche Debatte aus. Die Beschwerdeführerin, die Strafanzeige gegen P. eingereicht und die Anwaltskammer eingeschaltet hatte, übermittelte alle Aufnahmen an die Polizei.
Die Anwaltszulassung des P. wurde im Folgenden wegen der Vorfälle entzogen; das Strafverfahren hingegen blieb aus formellen Gründen erfolglos. Nach entsprechender Aufforderung durch die nationale Datenschutzbehörde löschte die Beschwerdeführerin die Videos auf ihrer Facebook-Seite. Ein gegen die Lösch-Anordnung gerichtetes Verwaltungsverfahren der Beschwerdeführerin blieb in allen Instanzen erfolglos. Ein von der Datenschutzbehörde gegen die Beschwerdeführerin angestrengtes Ordnungswidrigkeitenverfahren wegen der Veröffentlichung der Videos hatte ebenfalls keinen Erfolg.
Die Gründe:
Der EGMR stellte einleitend fest, dass die Videos zumindest unmittelbar nach ihrer Veröffentlichung eine erhebliche Wirkung hatten und ein breites Publikum erreichten. Die Aufforderung, diese Videos wieder zu löschen, sei gesetzlich vorgesehen gewesen und habe die Ziele des Schutzes Rechte anderer, nämlich der Privatsphäre des P. im Einklang mit Art. 8 EMRK, sowie der Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung bezweckt.
Allerdings sei der Eingriff nicht in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen: Der Gerichtshof erinnerte erneut daran, dass die Äußerung von Ideen zu einem Thema von allgemeinem Interesse ein hohes Schutzniveau genießt. Auch die bedeutende Rolle des Internets zur Ausübung der Meinungsfreiheit - und die damit verbundenen Risiken - hob der EGMR zum wiederholten Male hervor.
Der Gerichtshof verwies auf die Widersprüchlichkeit der Ergebnisse der innerstaatlichen Gerichtsverfahren, nämlich dem Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen die Beschwerdeführerin zum einen, dem Verwaltungsverfahren gegen die Lösch-Anordnung zum anderen. Im Ordnungswidrigkeitenverfahren sei unter Bezug auf die gesellschaftliche Relevanz der Videos festgestellt worden, dass das Recht der Beschwerdeführerin auf freie Meinungsäußerung schwerer wiege als das Recht des P. auf Schutz seines Privatlebens. Die Verwaltungsgerichte hätten hingegen insbesondere argumentiert, dass die streitigen Videos einen Nachbarschaftsstreit betrafen, der keinerlei öffentliches Interesse aufwies, und dass ihre Verbreitung negative Auswirkungen auf das Privatleben von P. haben könnte.
Der EGMR befand, dass die Verwaltungsgerichte, um zu diesen Schlussfolgerungen zu gelangen, im Gegensatz zu den für das Ordnungswidrigkeitsverfahren zuständigen Richtern keine Abwägung der durch die betroffenen Rechte geschützten Interessen gemäß den in seiner Rechtsprechung aufgestellten Kriterien vorgenommen und auch nicht geprüft hatten, ob der Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerin auf freie Meinungsäußerung erforderlich war. Insbesondere seien der Inhalt der unprovozierten homophoben Äußerungen des P. und der Kontext der mehrtägigen Vorfälle nicht berücksichtigt worden. Bei den fraglichen Handlungen habe es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um eine grundlose homophobe Aggression aufgrund der Aktivitäten der Beschwerdeführerin und ihrer vermuteten sexuellen Orientierung gehandelt. Daher erscheine die Schlussfolgerung der Verwaltungsgerichte, dass es sich bei dem Vorfall um einen privaten Konflikt ohne öffentliches Interesse handelte, nicht stichhaltig. Das Recht der Beschwerdeführerin auf freie Meinungsäußerung sei in keiner Weise berücksichtigt worden. Dass der Eingriff weniger schwerer Intensität war, spielte vor diesem Hintergrund keine Rolle.
Der EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK.
Sebastian Ramelli, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)
Die Beschwerdeführerin ist Rechtsanwältin und insbesondere für ihre Tätigkeit im Bereich der Verteidigung der Rechte von LGBTQ+-Personen bekannt. Im Mai 2017 - während der Pride-Woche - wurde sie nach ihren Angaben von P., einem Rechtsanwalt und Universitätsprofessor, dessen Wohnung sich in der Nähe ihres Büros befindet, wegen ihrer LGBTQ+-Arbeit verbal angegriffen, beleidigt und bedroht. Sie nahm mehrere Videos von dem Vorfall auf, die nicht veröffentlicht wurden. Bei weiteren vergleichbaren Vorfällen in den folgenden Tagen nahm sie erneut Videos auf, in denen P. erkennbar sichtbar war, die sie nunmehr auf ihrer Facebook-Seite veröffentlichte, wo sie nach ihren Angaben von etwa sechzigtausend Personen angesehen wurden. Die Videos wurden auch von mehreren Medien aufgegriffen und weiterverbreitet und lösten eine starke öffentliche Debatte aus. Die Beschwerdeführerin, die Strafanzeige gegen P. eingereicht und die Anwaltskammer eingeschaltet hatte, übermittelte alle Aufnahmen an die Polizei.
Die Anwaltszulassung des P. wurde im Folgenden wegen der Vorfälle entzogen; das Strafverfahren hingegen blieb aus formellen Gründen erfolglos. Nach entsprechender Aufforderung durch die nationale Datenschutzbehörde löschte die Beschwerdeführerin die Videos auf ihrer Facebook-Seite. Ein gegen die Lösch-Anordnung gerichtetes Verwaltungsverfahren der Beschwerdeführerin blieb in allen Instanzen erfolglos. Ein von der Datenschutzbehörde gegen die Beschwerdeführerin angestrengtes Ordnungswidrigkeitenverfahren wegen der Veröffentlichung der Videos hatte ebenfalls keinen Erfolg.
Die Gründe:
Der EGMR stellte einleitend fest, dass die Videos zumindest unmittelbar nach ihrer Veröffentlichung eine erhebliche Wirkung hatten und ein breites Publikum erreichten. Die Aufforderung, diese Videos wieder zu löschen, sei gesetzlich vorgesehen gewesen und habe die Ziele des Schutzes Rechte anderer, nämlich der Privatsphäre des P. im Einklang mit Art. 8 EMRK, sowie der Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung bezweckt.
Allerdings sei der Eingriff nicht in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen: Der Gerichtshof erinnerte erneut daran, dass die Äußerung von Ideen zu einem Thema von allgemeinem Interesse ein hohes Schutzniveau genießt. Auch die bedeutende Rolle des Internets zur Ausübung der Meinungsfreiheit - und die damit verbundenen Risiken - hob der EGMR zum wiederholten Male hervor.
Der Gerichtshof verwies auf die Widersprüchlichkeit der Ergebnisse der innerstaatlichen Gerichtsverfahren, nämlich dem Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen die Beschwerdeführerin zum einen, dem Verwaltungsverfahren gegen die Lösch-Anordnung zum anderen. Im Ordnungswidrigkeitenverfahren sei unter Bezug auf die gesellschaftliche Relevanz der Videos festgestellt worden, dass das Recht der Beschwerdeführerin auf freie Meinungsäußerung schwerer wiege als das Recht des P. auf Schutz seines Privatlebens. Die Verwaltungsgerichte hätten hingegen insbesondere argumentiert, dass die streitigen Videos einen Nachbarschaftsstreit betrafen, der keinerlei öffentliches Interesse aufwies, und dass ihre Verbreitung negative Auswirkungen auf das Privatleben von P. haben könnte.
Der EGMR befand, dass die Verwaltungsgerichte, um zu diesen Schlussfolgerungen zu gelangen, im Gegensatz zu den für das Ordnungswidrigkeitsverfahren zuständigen Richtern keine Abwägung der durch die betroffenen Rechte geschützten Interessen gemäß den in seiner Rechtsprechung aufgestellten Kriterien vorgenommen und auch nicht geprüft hatten, ob der Eingriff in das Recht der Beschwerdeführerin auf freie Meinungsäußerung erforderlich war. Insbesondere seien der Inhalt der unprovozierten homophoben Äußerungen des P. und der Kontext der mehrtägigen Vorfälle nicht berücksichtigt worden. Bei den fraglichen Handlungen habe es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um eine grundlose homophobe Aggression aufgrund der Aktivitäten der Beschwerdeführerin und ihrer vermuteten sexuellen Orientierung gehandelt. Daher erscheine die Schlussfolgerung der Verwaltungsgerichte, dass es sich bei dem Vorfall um einen privaten Konflikt ohne öffentliches Interesse handelte, nicht stichhaltig. Das Recht der Beschwerdeführerin auf freie Meinungsäußerung sei in keiner Weise berücksichtigt worden. Dass der Eingriff weniger schwerer Intensität war, spielte vor diesem Hintergrund keine Rolle.
Der EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK.