Meinungsfreiheit - Russland: Entlassungen von Staatsbediensteten wegen kritischer arbeitgeber- und berufsbezogener Äußerungen gegenüber den Medien
EGMR v. 15.10.2024 - 73585/14 u.a.Der Beschwerdeführer Gadzhiyev (Beschwerde 73585/14) war Polizeioberst in einer mobilen Sicherheitseinheit des Innenministeriums der russischen Republik Dagestan. Er wurde 2013 nach einer dienstrechtlichen Ermittlung, bei der festgestellt wurde, dass er in den Medien viermal Korruption in der regionalen Polizei behauptet hatte, entlassen. Ihm wurde insbesondere vorgeworfen, sich nicht im Voraus mit der Abteilung für Information und Öffentlichkeitsarbeit des Innenministeriums in Verbindung gesetzt zu haben. Die Behauptungen des Beschwerdeführers waren von einer Polizeigewerkschaft unterstützt worden.
Der Beschwerdeführer Gostev (Beschwerde 51427/18) war seit 1992 bei der Moskauer Metro beschäftigt und wurde 2014 Vorsitzender einer Gewerkschaft der Metro-Arbeiter. Nach einer Reihe technischer Zwischenfälle, die zu Betriebsstörungen der Metro geführt hatten, organisierte die Gewerkschaft 2016 eine Demonstration und eine Reihe von Einzelstreikposten, um die Behörden und die breite Öffentlichkeit auf Sicherheitsmängel aufmerksam zu machen. Aufgrund weiterer Vorfälle gab der Beschwerdeführer in seiner Eigenschaft als Gewerkschaftsvorsitzender zwei Interviews für Internet-Medienportale. Im Jahr 2017 verhängte die zuständige Moskauer Behörde zwei separate Disziplinarstrafen wegen dieser Interviews. Da die zweite Sanktion wegen wiederholten Fehlverhaltens verhängt wurde, führte dies zur Entlassung.
Die beiden Beschwerdeführer legten erfolglos Rechtsmittel bei den innerstaatlichen Gerichten ein.
Die Gründe:
Mit Blick auf den Beschwerdeführer Gadzhiyev stellte der EGMR fest, dass dieser dafür bestraft worden war, dass er öffentlich Vorwürfe wegen Missständen in der Einrichtung, für die er arbeitete, erhoben hatte. Die Strafe sei gesetzlich vorgesehen gewesen und habe ein legitimes Ziel, nämlich den Schutz der Rechte anderer, verfolgt. Allerdings habe der Beschwerdeführer Angelegenheiten von eindeutig großem öffentlichen Interesse angesprochen, indem er Informationen verwendete, die er durch seine Position als Insider erhalten hatte: In seiner Eigenschaft als Staatsbediensteter habe er Vorwürfe der Korruption, die die Wirksamkeit und Sicherheit von Polizeieinsätzen gefährde, erhoben. Die Unterstützung der Anliegen des Beschwerdeführers durch die Polizeigewerkschaft zeige, dass seine Aussagen nicht ausschließlich durch personenbezogene Interessen oder Meinungen motiviert waren, sondern ein breiteres Anliegen innerhalb der Organisation widerspiegelten.
Vorliegend sei insbesondere das kategorische Verbot öffentlicher Äußerungen von Staatsbediensteten zu Angelegenheiten, die nicht in ihren Zuständigkeitsbereich fallen, ohne vorherige Rücksprache mit der zuständigen Abteilung von Bedeutung. Eine unflexible Durchsetzung dieses Verbots ohne Berücksichtigung der konkurrierenden Interessen, die auf dem Spiel stehen, würde mit großer Wahrscheinlichkeit eine abschreckende Wirkung auf die Meinungsfreiheit der Staatsbediensteten haben. Zwar seien Zurückhaltung und Diskretion bei der Ausübung offizieller Pflichten von großer Bedeutung. Die strenge Anwendung des innerstaatlichen Rechts, wie im vorliegenden Fall, habe jedoch als kategorisches Verbot für Kommentare von Polizeibeamten, entweder individuell oder gemeinsam, zu allen Angelegenheiten im Zusammenhang mit den Operationen ihrer Organisation gewirkt und sie daran gehindert, ihre Meinung zu allem zu äußern, was außerhalb ihres unmittelbaren Zuständigkeitsbereichs lag.
Zudem sei die Strafe, insbesondere angesichts der Unterstützung des Beschwerdeführers durch die Polizeigewerkschaft, in ihrer Härte in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig gewesen.
Betreffend den Beschwerdeführer Gostev hielt der Gerichtshof fest, dass dieser keine vertraulichen Informationen preisgegeben habe, sein Arbeitgeber und die innerstaatlichen Gerichte ihn jedoch beschuldigt hatten, seine Pflicht zur Zurückhaltung und Diskretion verletzt zu haben. Der Beschwerdeführer habe eine Reihe schwerwiegender und wiederkehrender Vorfälle erwähnt, deren Richtigkeit weder von seinem Arbeitgeber noch von den nationalen Gerichten in Frage gestellt worden seien. Diese Behauptungen seien, soweit sie die Sicherheit der Metro betrafen, für eine große Gruppe von Menschen - nämlich für die Einwohner Moskaus, die dieses wichtige Verkehrsmittel in der russischen Hauptstadt regelmäßig nutzten - von Interesse gewesen. Auch sei keine böswillige Absicht des Beschwerdeführers behauptet worden. Seine Äußerungen seien unbestreitbar von öffentlichem Interesse gewesen. Darüber hinaus habe keine von ihnen als beleidigend oder als unbegründeter personenbezogener Angriff auf andere angesehen werden können.
Unter Berücksichtigung des Inhalts der betreffenden Äußerungen und des Status des Beschwerdeführers als Gewerkschaftsvertreter hatte der EGMR daher keinen Grund, an seinen Beweggründen für diese Äußerungen zu zweifeln, nämlich die Arbeitsbedingungen im Unternehmen zu verbessern. Zwar habe die Offenlegung von Informationen über Probleme im Betrieb der Metro den guten Ruf des Arbeitgebers des Beschwerdeführers, der Moskauer Metro, und ihrer Zulieferer, wie den Herstellern der U-Bahn-Wagen und anderer Schienenfahrzeuge, deren Qualität er in Frage gestellt hatte, potentiell schaden können. In diesem Bereich könnten selbst scheinbar belanglose Details, die nicht als vertraulich eingestuft wurden, von Bedeutung sein und für böswillige Zwecke verwendet werden. Der EGMR konnte jedoch keine Anhaltspunkte, wonach die fraglichen Aussagen dem Arbeitgeber des Beschwerdeführers in irgendeiner Weise geschadet hatten, feststellen.
Mit Blick auf die Schwere der Strafe bekräftigte der Gerichtshof, dass Mitglieder einer Gewerkschaft in der Lage sein müssten, ihrem Arbeitgeber gegenüber die Forderungen zu äußern, mit denen sie die Situation der Arbeitnehmer in ihrem Unternehmen verbessern wollen. Eine Gewerkschaft, die nicht die Möglichkeit hat, ihre Ideen in dieser Hinsicht frei zu äußern, würde eines wesentlichen Handlungsmittels beraubt werden. Um die sinnvolle und wirksame Reichweite der Gewerkschaftsrechte zu gewährleisten, müssten die nationalen Behörden daher sicherstellen, dass unverhältnismäßige Strafen Gewerkschaftsvertreter nicht davon abhalten, die Interessen ihrer Mitglieder zu äußern und zu verteidigen. Ganz allgemein gebe es kaum Möglichkeiten, die Debatte über Angelegenheiten von öffentlichem Interesse einzuschränken. Vor diesem Hintergrund sei mit seiner Entlassung die gegen den Beschwerdeführer verhängte härteste arbeitsrechtlich vorgesehene Strafe in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig gewesen. Eine solche Disziplinarmaßnahme könne nicht nur negative Auswirkungen auf seine Karriere und seine Möglichkeiten, eine andere Stelle zu finden, haben; sie habe auch eine potentiell abschreckende Wirkung auf andere Arbeitnehmer in diesem Sektor.
Der EGMR bejahte mit Blick auf beide Beschwerdeführer einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK.