19.09.2023

Meinungsfreiheit - Russland: Gewaltsamer Angriff von Kosaken auf die Band Pussy Riot bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi

Der russische Staat ist für einen gewaltsamen Angriff von Kosaken auf Mitglieder der feministischen Punkband Pussy Riot direkt verantwortlich.

EGMR v. 29.08.2023 - 25276/15
Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerinnen sind fünf russische Staatsangehörige, die Mitglieder der feministischen Punkband Pussy Riot waren. Die Band ist für ihre improvisierten Auftritte mit regierungskritischen Liedern bekannt. Am 19. Februar 2014 versuchten die Beschwerdeführerinnen, die ihr Markenzeichen, bunte Sturmhauben, trugen, im russischen Sotschi, wo zu diesem Zeitpunkt die XII. Olympischen Winterspiele stattfanden, vor einer olympischen Werbetafel ein neues Protestlied mit dem Titel "Putin wird euch lehren, das Vaterland zu lieben" zu singen, wobei sie sich filmten. Dabei wurden sie von zehn Männern, mehrere davon in Kosakenuniform (Kosaken werden zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung vom russischen Staat finanziert und direkt kontrolliert; sie unterstützten die Polizei während der Olympischen Winterspiele 2014), mit einer Peitsche angegriffen, zu Boden geworfen, geschlagen und mit Pfeffergas besprüht. Die Beschwerdeführerinnen brachen den Auftritt daraufhin ab. Im Krankenhaus wurden Verletzungen wie Kratzer, Prellungen, Quetschungen, Schwellungen und Verätzungen an den Augen festgestellt.

Nach Angaben der Beschwerdeführerinnen hat die Polizei, die während des Angriffs eintraf, weder auf die Gewalt noch auf die Aufforderung, die Angreifer festzunehmen, reagiert. Auch wurde zu keinem Zeitpunkt ein Strafverfahren gegen die Angreifer eingeleitet. In der letzten ablehnenden einschlägigen Entscheidung wurde festgestellt, dass es zu einem "Handgemenge" zwischen der Band Pussy Riot und vier Mitgliedern einer Kosakenvereinigung gekommen sei, bei dem zwei der Beschwerdeführerinnen verletzt worden seien. Keine der Verletzungen wurde jedoch als Gesundheitsschaden eingestuft, weshalb eine Strafverfolgung mangels Tatbestandsmerkmalen abgelehnt wurde. Die daraufhin von den Beschwerdeführerinnen eingelegten Rechtsmittel blieben allesamt erfolglos.

Die Gründe:
Der EGMR befand, dass der Auftritt zwar provokativ und bewusst als Schock gedacht gewesen sei, aber im spezifischen Kontext der Olympischen Spiele betrachtet werden müsse, als der kritische internationale Blick auf Russland gerichtet gewesen sei und das Filmen des Auftritts in der Nähe der Plakatwand mit der Aufschrift "Sotschi 2014" eine symbolische Bedeutung gehabt habe. Selbst wenn der Auftritt tiefe Gefühle verletzt hätte, sei dies in einer demokratischen Gesellschaft, in der auch störende politische Meinungen akzeptiert werden, keine Rechtfertigung dafür, ihn mit Gewalt und Peitsche zu beenden. In Anbetracht der allgemeinen künstlerischen Haltung von Pussy Riot zu politischen Ereignissen, der früheren Verurteilung zweier der Beschwerdeführerinnen wegen einer künstlerischen Darbietung im Jahr 2012, der konkreten Handlungen der Beschwerdeführerinnen zum Zeitpunkt des Angriffs, der offen dargelegten Gründe der Kosaken für den Angriff und der Untätigkeit der Polizei und der Ermittlungsbehörden müsse der Vorfall nicht nur als Verletzung von Art. 3 EMRK (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung), sondern auch der Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerinnen angesehen werden.

Es sei Aufgabe des Staates, wirksame Ermittlungen durchzuführen; dies schließe die Pflicht ein, das Bestehen eines möglichen Zusammenhangs zwischen einer politischen Einstellung und einer Gewalttat zu untersuchen. Vorliegend sei der Staat für den gewaltsamen Angriff durch Kosaken, der die Beschwerdeführerinnen daran hinderte, ihre künstlerische Darbietung fortzusetzen, verantwortlich gewesen. Kosaken seien an der Ausübung des öffentlichen Dienstes beteiligt gewesen, um die Polizei bei der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zu unterstützen. Der Staat sei dafür verantwortlich, die Tätigkeit der Kosaken angemessen zu regulieren und sie auszubilden und zu beaufsichtigen, um Einzelpersonen in angemessener Weise vor Misshandlungen zu schützen, insbesondere wenn sie von der Meinungsfreiheit Gebrauch machen. Russland habe es versäumt, seiner Pflicht nachzukommen, nicht rechtswidrig und unverhältnismäßig in das Recht auf freie Meinungsäußerung einzugreifen und angemessene und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die friedliche Ausübung der Meinungsfreiheit im vorliegenden Fall zu ermöglichen.

Der EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung von Art. 10 EMRK. Der EGMR bejahte daneben einstimmig eine Verletzung von Art. 3 EMRK.
Sebastian Ramelli, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)
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