18.08.2025

Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens / Meinungsfreiheit - Russland: Erhebung und Speicherung politischer Daten und deren Weitergabe an Wahlbehörden

Die Unbestimmtheit russischer Anti-Extremismus-Gesetzgebung hat es den innerstaatlichen Behörden konventionswidrig ermöglicht, selbst rein passive Handlungen wie das Folgen von Social-Media-Konten als Grund für den Ausschluss von Wahlen einzustufen. (Selishcheva u.a. gegen Russland)

EGMR v. 27.5.2025 - 39056/22 u.a.
Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführer sind zehn russische Staatsangehörige. Sie hatten sich als unabhängige Kandidaten für ein Oppositionsbündnis zur im Jahr 2021 stattfindenden Kommunalwahl im russischen Gebiet Nowosibirsk angemeldet. Die erforderlichen Voraussetzungen hatten sie erfüllt. Dennoch verweigerte die zuständige Wahlkommission unter Berufung auf Angaben aus dem Justizministerium die Zulassung zur Wahl. Dem Ministerium zufolge hätten die Beschwerdeführer laut polizeilichen Informationen mit Organisationen in Verbindung gestanden, die von russischen Gerichten als "extremistisch" eingestuft wurden. Dabei ging es unter anderem um die Teilnahme an nicht genehmigten Protesten, die Unterstützung oppositioneller Kandidaten und Bündnisse oder Aktivitäten in den sozialen Medien. Insbesondere wurden ihnen angebliche Verbindungen zu Alexei Nawalny vorgeworfen. Drei mit diesem verbundene Organisationen waren kurz zuvor durch russische Gerichte für extremistisch erklärt und ihr Verbot angeordnet worden. Rechtsmittel gegen die Nichtzulassung blieben erfolglos. Vor dem EuGH beriefen sich die Beschwerdeführer insbesondere auf Art. 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens), 10 (Meinungsfreiheit) und 11 (Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) EMRK.

Die Gründe:
Mit Blick auf Art. 8 EMRK bekräftigte der EGMR, dass bereits die bloße Speicherung von Informationen, die Aufschluss über die politischen Ansichten einer Person und ihre Teilnahme an friedlichen Protesten geben - wie hier durch die Polizei -, eine Beeinträchtigung des Rechts auf Achtung des Privatlebens darstellt. Diese sei im vorliegenden Fall nicht gesetzlich vorgesehen gewesen, da der innerstaatliche Rechtsrahmen unklar gewesen sei. Insbesondere hätten Vorschriften darüber, wie lange die Daten aufbewahrt werden sollten und wann sie zu löschen waren, sowie ein wirksamer Mechanismus zur unabhängigen Überprüfung der Entscheidungen über die Erhebung und Speicherung dieser Daten gefehlt. Auch habe es an Auskunftsrechten der Betroffenen gemangelt. Zudem sei der Eingriff nicht in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen: Die erhoben Daten seien besonders sensiblen Charakters gewesen und von der Polizei in Form detaillierter Dossiers gesammelt worden, obwohl die Beschwerdeführer friedlich und rechtmäßig politisch aktiv gewesen und zum Erhebungszeitpunkt auch die mit Nawalny verbundenen Organisationen noch nicht verboten gewesen seien. Die wahllose und unbefristete Erhebung habe zudem eine abschreckende Wirkung mit Blick auf politische Aktivität.

In Bezug auf Art. 10 (und 11) EMRK hielt der EGMR fest, dass die Weigerung, die Beschwerdeführer als Kandidaten zu registrieren, eine Sanktion darstelle, die ihnen wegen der vorherigen Ausübung ihrer Rechte aus der Konvention, unter anderem der Nutzung sozialen Medien, auferlegt wurde. Obwohl die Sanktion nicht unmittelbar darauf abgezielt habe, etwa die Äußerung bestimmter Meinungen zu verbieten, habe sie eine negative Folge der legitimen Ausübung dieser Rechte dargestellt, womit ein Eingriff vorliege. Auch hier verneinte der EGMR, dass der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig gewesen sei. So hätten die Beschwerdeführer vernünftigerweise nicht vorhersehen können, dass ihr politisches Engagement später dazu verwendet werden würde, ihnen Wahlrechte nach damals noch nicht bestehenden Gesetzen und in Bezug auf Organisationen, die noch nicht als extremistisch eingestuft worden waren, zu verweigern. Auch sei der Tatbestand "Beteiligung" an extremistischen Organisationen unbestimmt, was es den innerstaatlichen Behörden ermöglicht habe, eine potenziell unbestimmte Reihe legitimer Aktivitäten - selbst rein passive Handlungen wie das Folgen von Social-Media-Konten - als Grund für den Ausschluss von Wahlen einzustufen. Zudem habe eine entsprechende gerichtliche Überprüfung vorliegend nicht stattgefunden.

Der EGMR bejahte einstimmig eine Verletzung von Art. 8, 10 sowie 11 EMRK.
Sebastian Ramelli, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)