Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens - Spanien: Erfolgloses Vorgehen gegen Aussagen eines Zeitungsartikels
EGMR v. 6.11.2025 - 23236/22
Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin war zum beschwerdegegenständlichen Zeitpunkt Gerichtsmedizinerin in Spanien. Im September 2012 wurde in der landesweit erscheinenden Zeitung El País ein Artikel veröffentlicht, in dem behauptet wurde, dass sie einer gerichtlichen Anordnung nicht nachgekommen sei, B., einen verurteilten Terroristen, der aus dem Gefängnis freikommen sollte, persönlich zu untersuchen, bevor sie einen Bericht über ihn erstellte. Die Beschwerdeführerin argumentiert, dass sie diese Anordnung nie erhalten habe und bis zum Erscheinen des Zeitungsartikels weder von deren Existenz noch von deren Inhalt Kenntnis gehabt habe.
Eine von der Beschwerdeführerin gegen El País und den zuständigen Journalisten angestrengte Klage auf Widerruf blieb erfolglos. Die Beschwerdeführerin erhob im Folgenden Strafanzeige gegen den Journalisten und einen Anwalt mit dem Argument, die beschwerdegegenständliche Anordnung und das Begleitschreiben, die als Beweismittel im Widerrufsprozess vorgelegt worden waren, seien manipuliert worden. Das zuständige Gericht stellte zwar fest, dass das Anschreiben manipuliert worden war, doch wurde das Verfahren eingestellt, da nicht nachgewiesen werden konnte, dass entweder der Journalist oder der Anwalt das Dokument verändert hatten oder dass sie von der Veränderung Kenntnis hatten.
Eine weitere Zivilklage der Beschwerdeführerin gegen El País wegen Verleumdung blieb ebenfalls erfolglos.
Die Gründe:
Unter Verweis auf seine ständige Rechtsprechung in Bezug auf die Abwägung der konkurrierenden Rechte aus Art. 8 und 10 der EMRK stellte der EGMR zunächst fest, dass der Titel und der erste Absatz des beschwerdegegenständlichen Artikels den Eindruck erweckten, dass die Beschwerdeführerin auf der Grundlage der ihr zur Verfügung gestellten medizinischen Unterlagen ein medizinisches Gutachten über B. erstellt hatte, ohne einer gerichtlichen Anordnung, den Häftling persönlich zu untersuchen, Folge zu leisten.
Die Freilassung von B. und die Umstände ihrer Anordnung seien von großem öffentlichem Interesse gewesen, was wenig Spielraum für Einschränkungen der politischen Meinungsäußerung oder der Debatte zu diesem Thema lasse. Die Beschwerdeführerin sei zwar zuvor weder in Medien aufgetreten oder Gegenstand von Veröffentlichungen gewesen, noch sei sie eine Person des öffentlichen Lebens oder habe jemals öffentliche Aufmerksamkeit gesucht. Als Beamtin, die in amtlicher Eigenschaft handelte, könne sie unter bestimmten Umständen jedoch einer weiter gefassten Grenze akzeptabler Kritik unterliegen als Privatpersonen. Da der beschwerdegegenständliche Artikel die Art und Weise betraf, in der die Beschwerdeführerin ihre offiziellen Aufgaben wahrgenommen hatte, sei dies hier der Fall.
Gegenstand des Artikels seien unbestritten Tatsachenbehauptungen gewesen. Die Aufmachung und Wortwahl hätten tatsächlich die Nichtbefolgung der gerichtlichen Anordnung durch die Beschwerdeführerin betont. Da es unbestritten sei, dass es keine Beweise für die tatsächliche Weiterleitung der Anordnung an die Gerichtsmedizin oder die Beschwerdeführerin gab, sei es zwar bedauerlich, dass keine Maßnahmen ergriffen wurden, um die Aussagen im Text des Artikels zu relativieren. Die Grenzen verantwortungsvollen Journalismus" seien vorliegend jedoch nicht überschritten worden.
So sei der den Artikel verfassende Journalist nicht nur im Besitz der Anordnung gewesen, sondern habe diese zudem von einer offiziellen Quelle, der gerichtlichen Pressestelle, erhalten. Eigene Nachforschungen seien somit nicht erforderlich gewesen. Auch habe der Journalist vernünftigerweise davon ausgehen können, dass die Anordnung an die zuständige Gerichtsmedizinerin weitergeleitet worden war. Aufgrund des Fehlens eines wirksamen Systems zur Dokumentation der Kommunikation der involvierten Behörden und aufgrund des internen Charakters der Angelegenheit wäre jeder Versuch der Medien, die Frage der Benachrichtigung weiter zu untersuchen, wahrscheinlich erfolglos geblieben. Es wäre im vorliegenden Fall übertrieben, vom Journalisten den genauen Nachweis darüber, was mit der Benachrichtigung geschehen ist, zu erwarten. Die zur Verfügung gestellten Informationen seien in angemessenem Umfang überprüft worden, und der fragliche Artikel habe die dem Journalisten zum Zeitpunkt der Veröffentlichung zur Verfügung stehenden Informationen korrekt wiedergegeben. Eine Pflicht des Journalisten, vor Veröffentlichung die Beschwerdeführerin zu kontaktieren, ergebe sich weder aus innerstaatlichem Recht noch aus Art. 8 EMRK.
Letztlich seien die Aussagen des Artikels zwar schwerwiegend genug gewesen, um den guten Ruf der Beschwerdeführerin zu schaden. Es deute jedoch nichts in dem Fall darauf hin, dass sie Opfer eines "sozialen und medialen Lynchmords" geworden wäre. Auch sei es zu keiner straf- oder verwaltungsrechtlichen Anklage oder Verurteilung gekommen.
Der EGMR verneinte mit 4:3 Stimmen eine Verletzung von Art. 8 EMRK.
Sebastian Ramelli, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)
Die Beschwerdeführerin war zum beschwerdegegenständlichen Zeitpunkt Gerichtsmedizinerin in Spanien. Im September 2012 wurde in der landesweit erscheinenden Zeitung El País ein Artikel veröffentlicht, in dem behauptet wurde, dass sie einer gerichtlichen Anordnung nicht nachgekommen sei, B., einen verurteilten Terroristen, der aus dem Gefängnis freikommen sollte, persönlich zu untersuchen, bevor sie einen Bericht über ihn erstellte. Die Beschwerdeführerin argumentiert, dass sie diese Anordnung nie erhalten habe und bis zum Erscheinen des Zeitungsartikels weder von deren Existenz noch von deren Inhalt Kenntnis gehabt habe.
Eine von der Beschwerdeführerin gegen El País und den zuständigen Journalisten angestrengte Klage auf Widerruf blieb erfolglos. Die Beschwerdeführerin erhob im Folgenden Strafanzeige gegen den Journalisten und einen Anwalt mit dem Argument, die beschwerdegegenständliche Anordnung und das Begleitschreiben, die als Beweismittel im Widerrufsprozess vorgelegt worden waren, seien manipuliert worden. Das zuständige Gericht stellte zwar fest, dass das Anschreiben manipuliert worden war, doch wurde das Verfahren eingestellt, da nicht nachgewiesen werden konnte, dass entweder der Journalist oder der Anwalt das Dokument verändert hatten oder dass sie von der Veränderung Kenntnis hatten.
Eine weitere Zivilklage der Beschwerdeführerin gegen El País wegen Verleumdung blieb ebenfalls erfolglos.
Die Gründe:
Unter Verweis auf seine ständige Rechtsprechung in Bezug auf die Abwägung der konkurrierenden Rechte aus Art. 8 und 10 der EMRK stellte der EGMR zunächst fest, dass der Titel und der erste Absatz des beschwerdegegenständlichen Artikels den Eindruck erweckten, dass die Beschwerdeführerin auf der Grundlage der ihr zur Verfügung gestellten medizinischen Unterlagen ein medizinisches Gutachten über B. erstellt hatte, ohne einer gerichtlichen Anordnung, den Häftling persönlich zu untersuchen, Folge zu leisten.
Die Freilassung von B. und die Umstände ihrer Anordnung seien von großem öffentlichem Interesse gewesen, was wenig Spielraum für Einschränkungen der politischen Meinungsäußerung oder der Debatte zu diesem Thema lasse. Die Beschwerdeführerin sei zwar zuvor weder in Medien aufgetreten oder Gegenstand von Veröffentlichungen gewesen, noch sei sie eine Person des öffentlichen Lebens oder habe jemals öffentliche Aufmerksamkeit gesucht. Als Beamtin, die in amtlicher Eigenschaft handelte, könne sie unter bestimmten Umständen jedoch einer weiter gefassten Grenze akzeptabler Kritik unterliegen als Privatpersonen. Da der beschwerdegegenständliche Artikel die Art und Weise betraf, in der die Beschwerdeführerin ihre offiziellen Aufgaben wahrgenommen hatte, sei dies hier der Fall.
Gegenstand des Artikels seien unbestritten Tatsachenbehauptungen gewesen. Die Aufmachung und Wortwahl hätten tatsächlich die Nichtbefolgung der gerichtlichen Anordnung durch die Beschwerdeführerin betont. Da es unbestritten sei, dass es keine Beweise für die tatsächliche Weiterleitung der Anordnung an die Gerichtsmedizin oder die Beschwerdeführerin gab, sei es zwar bedauerlich, dass keine Maßnahmen ergriffen wurden, um die Aussagen im Text des Artikels zu relativieren. Die Grenzen verantwortungsvollen Journalismus" seien vorliegend jedoch nicht überschritten worden.
So sei der den Artikel verfassende Journalist nicht nur im Besitz der Anordnung gewesen, sondern habe diese zudem von einer offiziellen Quelle, der gerichtlichen Pressestelle, erhalten. Eigene Nachforschungen seien somit nicht erforderlich gewesen. Auch habe der Journalist vernünftigerweise davon ausgehen können, dass die Anordnung an die zuständige Gerichtsmedizinerin weitergeleitet worden war. Aufgrund des Fehlens eines wirksamen Systems zur Dokumentation der Kommunikation der involvierten Behörden und aufgrund des internen Charakters der Angelegenheit wäre jeder Versuch der Medien, die Frage der Benachrichtigung weiter zu untersuchen, wahrscheinlich erfolglos geblieben. Es wäre im vorliegenden Fall übertrieben, vom Journalisten den genauen Nachweis darüber, was mit der Benachrichtigung geschehen ist, zu erwarten. Die zur Verfügung gestellten Informationen seien in angemessenem Umfang überprüft worden, und der fragliche Artikel habe die dem Journalisten zum Zeitpunkt der Veröffentlichung zur Verfügung stehenden Informationen korrekt wiedergegeben. Eine Pflicht des Journalisten, vor Veröffentlichung die Beschwerdeführerin zu kontaktieren, ergebe sich weder aus innerstaatlichem Recht noch aus Art. 8 EMRK.
Letztlich seien die Aussagen des Artikels zwar schwerwiegend genug gewesen, um den guten Ruf der Beschwerdeführerin zu schaden. Es deute jedoch nichts in dem Fall darauf hin, dass sie Opfer eines "sozialen und medialen Lynchmords" geworden wäre. Auch sei es zu keiner straf- oder verwaltungsrechtlichen Anklage oder Verurteilung gekommen.
Der EGMR verneinte mit 4:3 Stimmen eine Verletzung von Art. 8 EMRK.