18.11.2025

Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens - Ukraine: Verdeckt aufgenommene Video- und Audioaufzeichnungen als Beweismittel im Strafverfahren

Von Überwachungsmaßnahmen Betroffenen soll Zugang zu den betreffenden Dokumenten gewährt werden, sofern keine zwingenden Gründe gegen eine Freigabe sprechen. (Yakimchuk gegen Ukraine)

EGMR v. 11.9.2025 - 26519/16
Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin war ab 2004 Richterin im ukrainischen Gerichtswesen. Im November 2008 zeichnete der regionale Sicherheitsdienst nach entsprechender gerichtlicher Genehmigung in ihrem Büro heimlich ein Gespräch zwischen der Beschwerdeführerin und D., einem einer Ordnungswidrigkeit Beschuldigten, dessen Verfahren sie bearbeitete, auf Video auf. Die Beschwerdeführerin forderte von D. ein Bestechungsgeld in Höhe von zum Tatzeitpunkt umgerechnet etwa 6,56 Euro als Gegenleistung für seine Freilassung aus der Arresthaft. Anschließend verfasste sie eine Gerichtsentscheidung, in der sie die Strafe auf eine mündliche Verwarnung beschränkte und D. von der Arresthaft befreite. Daraufhin wurde im Juni 2009 nach einer Strafanzeige des D. ein Strafverfahren wegen Bestechlichkeit gegen die Beschwerdeführerin eingeleitet.

In einem zweiten Fall vom Februar 2009 fertigte der regionale Sicherheitsdienst verdeckte Videoaufzeichnungen eines Gespräches der Beschwerdeführerin mit P., der Schwester eines Beschuldigten, an. Auch hier nahm die Beschwerdeführerin Bestechungsgeld von zum Tatzeitpunkt umgerechnet etwa 101 Euro an, und es wurde im Februar 2009 nach einer Strafanzeige der P. ein Strafverfahren wegen Bestechlichkeit eingeleitet.

Die Beschwerdeführerin wurde wegen Bestechlichkeit in zwei Fällen zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, ausgesetzt unter einer einjährigen Bewährungsstrafe und einem einjährigen Verbot der Ausübung gerichtlicher und staatlicher Ämter. Die Videoaufzeichnungen und die dazu angefertigten Berichte des Sicherheitsdienstes flossen neben anderem in die Urteilsfindung ein. Zudem wurden heimlich auf Initiative des Sicherheitsdienstes von der P. angefertigte Aufzeichnungen eines weiteren Gesprächs mit der Beschwerdeführerin verwertet. Rechtsmittel blieben im Ergebnis erfolglos. Die Beschwerdeführerin wurde später aufgrund ihrer strafrechtlichen Verurteilung aus ihrem Amt als Richterin entlassen.

Die Gründe:
Unter Verweis auf seine in den Urteilen Roman Zakharov gegen Russland (Große Kammer, EGMR v. 04.12.2015 - 47143/06) und Denysyuk u.a. gegen Ukraine (EGMR v. 13.02.2025 - 22790/19 und 3 andere) aufgestellten Grundsätze zu verdeckten Überwachungsmaßnahmen bejahte der EGMR einen Eingriff in Art. 8 EMRK durch die heimlichen Aufzeichnungen des regionalen Sicherheitsdienstes. Zwar seien die Videoaufzeichnungen im Vorfeld gerichtlich genehmigt gewesen. Der Beschwerdeführerin sei jedoch mit Blick auf diese Entscheidung keine Akteneinsicht gewährt worden, um die Rechtmäßigkeit der Entscheidung prüfen zu können, da die betreffenden Unterlagen als geheim eingestuft gewesen seien. Innerstaatliche Gerichte seien bei der Prüfung eines Antrags auf Offenlegung einer Genehmigung zur verdeckten Überwachung jedoch verpflichtet, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den Interessen der überwachten Person und den öffentlichen Interessen zu gewährleisten. Überwachungsbetroffenen solle Zugang zu den betreffenden Dokumenten gewährt werden, sofern keine zwingenden Gründe gegen eine Freigabe sprechen. Dies sei vorliegend unterblieben, womit eine wichtige Garantie für die Rechtmäßigkeit der Überwachungsmaßnahmen nicht gewährleistet worden sei.

Hinsichtlich der von der P. angefertigten Audioaufzeichnungen stellte der EGMR unter Verweis auf die in seinem Urteil in der Rechtssache Berlizev gegen Ukraine (EGMR v. 08.07.2021 - 43571/12) aufgestellten Grundsätze fest, dass dieser vom Sicherheitsdienst veranlassten Maßnahme keine gerichtliche Genehmigung zugrunde gelegen habe.

Der EGMR bejahte mit Blick auf beide Sachverhalte einstimmig eine Verletzung von Art. 8 EMRK.
Sebastian Ramelli, LL.M. (Institut für Europäisches Medienrecht e.V. Saarbrücken)