22.08.2023

Unklare Verkehrslage beim Überholen eines Traktors

Es besteht für den Überholenden eine unklare Verkehrslage, wenn ein vorausfahrender Traktor nach links blinkt. Der nachfolgende Verkehr muss stets damit rechnen, dass der Traktor kurzfristig abbiegt, und zwar auch ohne vorheriges Einordnen nach links.

OLG Schleswig-Holstein v. 26.7.2023 - 7 U 42/23
Der Sachverhalt:
Am 10.6.2021 kam es im Bereich einer Hofeinfahrt zu einer Kollision zwischen dem Kläger mit seinem Vespa-Motorroller und dem bei der Beklagten zu 1) haftpflichtversicherten und vom Beklagten zu 2) geführten Traktorgespann mit Gülleanhänger. Der Kläger war zuvor hinter dem Beklagten zu 2) mit dem Traktorgespann gefahren. Als er dann das Traktorgespann überholte und dieses im selben Moment nach links in eine Hofeinfahrt abbog, stieß der Kläger auf der Gegenfahrbahn gegen das linke Vorderrad des Traktors. Dabei wurde er erheblich verletzt. Er war über einen Monat arbeitsunfähig.

Der Kläger verlangte daraufhin ein angemessenes Schmerzensgeld i.H.v. 3.500 € sowie Ersatz seines Haushaltsführungsschadens. Ferner machte er die Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten für weitere materielle und immaterielle Ansprüche sowie den Ersatz vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten geltend. Der Kläger hat seine Vollkaskoversicherung in Anspruch genommen.

Der Kläger behauptete, er sei ca. 60 km/h gefahren. Am Traktorgespann sei kein Blinker gesetzt gewesen. Die Hofeinfahrt habe er nicht erkannt. Die Beklagten behaupteten, der Beklagte zu 2) habe vor dem Abbiegen rechtzeitig geblinkt und seine Geschwindigkeit reduziert. Er habe den Kläger auf der Vespa trotz ordnungsgemäßer Rückschau nicht gesehen; dieser sei zu dicht aufgefahren und habe sich deshalb im toten Winkel befunden.

Das LG hat der Klage auf Grundlage einer Mithaftungsquote von 50 % teilweise stattgegeben. Der Kläger habe einen Anspruch auf ein Schmerzensgeld i.H.v. 2.500 €, auf Ersatz seines materiellen Schadens (einschließlich Haushaltsführungsschaden) i.H.v. 203 € sowie seiner vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten von 367,23 €. Auch der Feststellungsantrag sei (beschränkt auf die Haftungsquote) erfolgreich. Das OLG hat die hiergegen gerichtete Berufung des Klägers zurückgewiesen.

Die Gründe:
Der Kläger hat gegen die Beklagten einen Anspruch in dem vom LG zugesprochenen Umfang aus §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1, 2, 18 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 StVG, § 115 Abs. 1 Nr. 1 VVG auf Grundlage einer Mithaftungsquote von 50 %.

Das LG hatte zu Recht ein Überholen des Klägers bei unklarer Verkehrslage nach § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO angenommen. Blinkt ein Traktor nach links, ist stets damit zu rechnen, dass dieser kurzfristig abbiegt, und zwar ggf. auch ohne vorheriges Einordnen nach links (was wegen der Fahrzeugbreite häufig schon nicht möglich ist). Der Kläger hätte auch damit rechnen müssen, dass das Traktorgespann nach links in eine schwer erkennbare Hof- oder Feldeinfahrt einbiegen will. Bei dieser Verkehrslage war das Überholen somit unzulässig.

Nach ständiger BGH-Rechtsprechung ist eine Abwägung und Gewichtung der jeweiligen Verursachungsbeiträge vorzunehmen, wobei eine umfassende Würdigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere eine genaue Klärung des Unfallhergangs geboten ist. Im Rahmen der Abwägung der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge sind unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeuge ausgehenden Betriebsgefahr nur unstreitige oder aber zugestandene und bewiesene Umstände zu berücksichtigen.

Jeder Halter hat die Umstände zu beweisen, die dem anderen zum Verschulden gereichen und aus denen er für die nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG vorzunehmende Abwägung für sich günstige Rechtsfolgen herleiten will. Nur vermutete Tatbeiträge oder die bloße Möglichkeit einer Schadensverursachung aufgrund geschaffener Gefährdungslage haben deswegen außer Betracht zu bleiben. Die jeweils ausschließlich unstreitigen oder nachgewiesenen Tatbeiträge müssen sich zudem auf den Unfall ausgewirkt haben. Der Beweis obliegt demjenigen, welcher sich auf einen in die Abwägung einzustellenden Gesichtspunkt beruft.

Infolgedessen war das Verschulden des Beklagten zu 2) wegen eines Verstoßes gem. § 9 Abs. 1 S. 4, Abs. 5 StVO gegen das Verschulden des Klägers wegen eines Verstoßes gem. § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO unter Berücksichtigung der jeweiligen unterschiedlichen Betriebsgefahren der unfallbeteiligten Fahrzeuge gegeneinander abzuwägen und die jeweiligen Verursachungsbeiträge im Ergebnis gleich hoch zu gewichten. Die Höhe des Schmerzensgeldes hat das LG unter Berücksichtigung der zuvor ermittelten Haftungsquoten und der unstreitigen Verletzungen des Klägers und ihren Folgen mit 2.500 € fehlerfrei bemessen.

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