06.09.2023

Verfassungsbeschwerde in äußerungsrechtlichem Eilverfahren mangels Rechtswegerschöpfung unzulässig

Eine Verfassungsbeschwerde kann ausnahmsweise unmittelbar gegen eine einstweilige Verfügung selbst erhoben werden, wenn zwar andere Rechtsverletzungen fachgerichtlich angegriffen werden können, die Rügen der Verfassungsbeschwerde sich aber auf eine Rechtsverletzung unmittelbar durch die Handhabung des Prozessrechts im Verfahren über den Erlass der einstweiligen Verfügung selbst richten. Das BVerfG hat dies wiederholt angenommen, wenn sich der Beschwerdeführer gegen ein seinem Vorbringen nach bewusstes und systematisches Übergehen seiner prozessualen Rechte wendet. Beinhaltet die unter dem Gesichtspunkt der prozessualen Waffengleichheit gerügte Rechtsverletzung demgegenüber ausschließlich einen fachgerichtlich angreifbaren Verfahrensfehler, verbleibt es bei der vorrangigen Zuständigkeit der Fachgerichte.

BVerfG v. 25.8.2023 - 1 BvR 1612/23
Der Sachverhalt:
Die Beschwerdeführer, eine lokale politische Initiative in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins und dessen Vorstand, verantworten im Rahmen des Vereinsprojekts "Potsdam - Stadt für alle" eine gleichnamige Internetseite. Am 25.7.2023 veröffentlichten sie auf dieser Seite einen Beitrag über ein mit Immobilieninvestitionen in Potsdam engagiertes, im internationalen Erdölhandel tätiges Unternehmen mit dem Titel "Wie Profite aus dem Geschäft mit russischen Erdölprodukten in Potsdam angelegt werden". Dieses und sein Inhaber und Geschäftsführer forderten die Beschwerdeführer am 2.8.2023 außergerichtlich zur Abgabe vertragsstrafenbewehrter Unterlassungserklärungen auf. Daraufhin hinterlegten die Beschwerdeführer eine Schutzschrift im zentralen Schutzschriftenregister. Darin erklärten sie u.a., sich gegen die erhobenen Ansprüche zur Wehr zu setzen.

Mit angegriffenem Beschluss vom 14.8.2023 untersagte das LG Potsdam den Beschwerdeführern, wegen Dringlichkeit ohne mündliche Verhandlung, die Verbreitung mehrerer Äußerungen aus dem veröffentlichten Beitrag. Gegen diesen Beschluss legten die Beschwerdeführer am 19.8.2023 Widerspruch ein. Zur Begründung stützten sie sich u.a. auf eine Verletzung ihres Rechts auf prozessuale Waffengleichheit, da das LG die einstweilige Verfügung erlassen habe, ohne ihre Schutzschrift zur Kenntnis zu nehmen.

Ebenfalls am 19.8.2023 erhoben die Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde. Diese sei hinsichtlich einer Rüge der prozessualen Waffengleichheit zulässig. Die Beschwerdeführer richteten sich gegen eine bewusste Übergehung ihrer prozessualen Rechte. Die Verfassungsbeschwerde sei auch begründet. Das LG sei insbesondere gehalten gewesen, die von den Beschwerdeführern hinterlegte Schutzschrift zur Kenntnis zu nehmen.

Das BVerfG nahm die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an.

Die Gründe:
Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, da die Beschwerdeführer eine Erschöpfung des Rechtswegs entgegen § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG nicht dargetan haben.

Eine Verfassungsbeschwerde kann ausnahmsweise unmittelbar gegen eine einstweilige Verfügung selbst erhoben werden, wenn zwar andere Rechtsverletzungen - auch ein Verstoß gegen das rechtliche Gehör - fachgerichtlich angegriffen werden können, die Rügen der Verfassungsbeschwerde sich aber auf eine Rechtsverletzung unmittelbar durch die Handhabung des Prozessrechts im Verfahren über den Erlass der einstweiligen Verfügung selbst richten. Das BVerfG hat dies wiederholt angenommen, wenn sich der Beschwerdeführer gegen ein seinem Vorbringen nach bewusstes und systematisches Übergehen seiner prozessualen Rechte wendet. Beinhaltet die unter dem Gesichtspunkt der prozessualen Waffengleichheit gerügte Rechtsverletzung demgegenüber ausschließlich einen fachgerichtlich angreifbaren Verfahrensfehler, verbleibt es bei der vorrangigen Zuständigkeit der Fachgerichte.

Daran gemessen, haben die Beschwerdeführer eine Erschöpfung des Rechtswegs nicht dargetan. Wird eine Schutzschrift im Verfahren über den Erlass einer einstweiligen Verfügung nicht berücksichtigt, kann das Recht des Antragsgegners auf prozessuale Waffengleichheit zwar verletzt werden. Das bedeutet allerdings nicht, das für den hiermit gerügten Verfahrensfehler ein fachgerichtlicher Rechtsbehelf von vornherein ausgeschlossen ist.

Die Außerachtlassung einer hinterlegten Schutzschrift verletzt das grundrechtsgleiche Recht des Antragsgegners auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG. Besteht für eine Gehörsverletzung jedoch noch fachgerichtlicher Rechtsschutz, hat der Beschwerdeführer für die Zulässigkeit einer auf die Verletzung der prozessualen Waffengleichheit gestützten Verfassungsbeschwerde vorzutragen, welche über den Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG hinausgehende Rechtsverletzung er rügt, für die es an fachgerichtlichem Rechtsschutz fehlt. Stützt er hierzu seine Rüge - wie hier - auf eine bewusste und systematische Übergehung seiner prozessualen Rechte, bedarf es daher entsprechenden Vortrags, mit dem die Gehörsverletzung nicht als bloßer Verfahrensfehler, sondern nachvollziehbar als bewusste und systematische Übergehung seiner prozessualen Rechte dargetan ist.

Diese Maßstäbe zugrunde gelegt, haben die Beschwerdeführer eine bewusste und systematische Übergehung ihrer prozessualen Rechte nicht nachvollziehbar dargetan. Ein einzelner Verfahrensfehler ist regelmäßig nicht geeignet, ein bewusstes und systematisches Übergehen prozessualer Rechte von Verfahrensbeteiligten darzutun. Es kann sich dabei ebenso um ein bloßes Versäumnis handeln, das mit weitergehenden Gründen der Verfahrenshandhabung nicht einhergeht. Das gilt auch dann, wenn ein Verfahrensfehler - wie im hier gegebenen Fall einer Verletzung des grundrechtsgleichen Rechts auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG - zugleich eine Verletzung von Verfassungsrecht beinhaltet. Denn auch das besondere rechtliche Gewicht eines Verfahrensfehlers besagt regelmäßig nichts über die Gründe der Verfahrenshandhabung, auf denen er beruht.

Mehr zum Thema:

Rechtsprechung:
Verletzung des Rechts auf prozessuale Waffengleichheit
BVerfG vom 26.04.2023 - 1 BVR 718/23
AfP 2023, 321
AFP0058186

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BVerfG PM Nr. 78 vom 6.9.2023
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