Vorläufig vollstreckbarer Titel über streitige Forderung: Berücksichtigung in Höhe des Nennwerts?
BGH v. 23.1.2025 - IX ZR 229/22
Der Sachverhalt:
Der Kläger ist Verwalter in dem auf Eigenantrag vom 3.7.2012 am 1.10.2012 eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der G. AG (Schuldnerin). Die Beklagte ist eine Partnerschaft von Rechtsanwälten, welche die Schuldnerin außergerichtlich und gerichtlich beriet und vertrat. Die Schuldnerin vergütete die Leistungen der Beklagten durch Zahlungen. Soweit für das Revisionsverfahren noch von Interesse, nimmt der Kläger die Beklagte unter dem Gesichtspunkt der Vorsatzanfechtung auf Rückgewähr von sieben Einzelzahlungen i.H.v. insgesamt rd. 90.000 € in Anspruch, welche die Schuldnerin im Zeitraum vom 1.6.2011 bis 21.12.2011 an die Beklagte geleistet hat. Die Parteien streiten darüber, ob die Schuldnerin die Zahlungen mit dem Vorsatz vorgenommen hat, ihre Gläubiger zu benachteiligen. Der Kläger behauptet insbesondere, die Schuldnerin sei erkanntermaßen zahlungsunfähig gewesen.
Die B. GmbH & Co. KG (B.) gewährte einer Projekt- und Tochtergesellschaft der Schuldnerin mit Vertrag vom 6.5.2008 ein verzinsliches Darlehen i.H.v. 2,3 Mio. €. Das Darlehen diente dazu, die zur Finanzierung eines Immobilienprojekts geforderte Eigenkapitalquote der Tochtergesellschaft zu erfüllen. Die Schuldnerin erklärte im Darlehensvertrag ihren Schuldbeitritt. Der Zeitpunkt für die Rückzahlung des Darlehens der B. wurde mehrfach verschoben, zuletzt bis einschließlich zum 31.3.2011. Die Schuldnerin war zu diesem Zeitpunkt aus Mangel an liquiden Zahlungsmitteln nicht in der Lage, ihrer Pflicht aus dem Schuldbeitritt nachzukommen und den Darlehensrückzahlungsanspruch zu erfüllen.
Die B. nahm die Schuldnerin vor dem LG Stuttgart aus dem Schuldbeitritt in Anspruch. In dem Rechtsstreit wurde die Schuldnerin von der hiesigen Beklagten vertreten. Die Schuldnerin vertrat die Ansicht, der Darlehensrückzahlungsanspruch sei wegen eines aus dem Eigenkapitalcharakter des Darlehens folgenden Nachrangs gegenüber dem Darlehensrückzahlungsanspruch des weiteren Darlehensgebers nicht zur Rückzahlung fällig. Damit hatte sie keinen Erfolg. Mit vorläufig vollstreckbarem Urkundenvorbehaltsurteil vom 9.5.2011 verurteilte das LG Stuttgart die Schuldnerin als Gesamtschuldnerin zur Zahlung von 2,3 Mio. € nebst Zinsen. Die B. betrieb aus dem Urteil die Zwangsvollstreckung gegen die Schuldnerin. Die Schuldnerin legte gegen das Urteil Berufung ein und stellte unter dem 5.9.2011 den Antrag, die Zwangsvollstreckung ohne Sicherheitsleistung einstweilen einzustellen. Diesen Antrag wies das OLG Stuttgart mit Beschluss vom 13.10.2011 auch mit der Begründung zurück, dass die Berufung der Schuldnerin keine Aussicht auf Erfolg biete.
Am 22.11.2011 trafen die Schuldnerin und die B. eine Ratenzahlungsvereinbarung, nach der die Schuldnerin ab Januar 2012 mtl. Raten i.H.v. 30.000 € zahlen sollte. Die B. verzichtete für den Fall der pünktlichen und jeweils vollständigen Zahlung bis zum 28.2.2012 auf weitere Vollstreckungsmaßnahmen. Bereits ausgebrachte Vollstreckungsmaßnahmen sollten bestehen bleiben. Die Schuldnerin nahm daraufhin ihre Berufung gegen das Urteil des LG Stuttgart zurück.
Das LG hielt alle noch streitbefangenen Zahlungen für anfechtbar und verurteilte die Beklagte dementsprechend zur Zahlung. Auf die Berufung der Beklagten wies das OLG die Klage ab. Auf die Revision des Klägers hob der BGH das Berufungsurteil auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurück.
Die Gründe:
Mit der vom OLG gegebenen Begründung lässt sich die Annahme eines Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes der Schuldnerin als Tatbestandsvoraussetzung der Vorsatzanfechtung nach § 133 Abs. 1 Satz 1 InsO a.F. nicht verneinen. Insbesondere trägt die gegebene Begründung nicht die Annahme, die Schuldnerin habe ihre Zahlungsunfähigkeit nicht erkannt.
Das Berufungsurteil erweist sich u.a. deshalb als rechtsfehlerhaft, weil die Schuldnerin jedenfalls objektiv zahlungsunfähig war, als die B. Vollstreckungsmaßnahmen aus dem vorläufig vollstreckbaren Urkundenvorbehaltsurteil des LG Stuttgart vom 9.5.2011 einleitete. Die hieraus folgende Zahlungsunfähigkeit hat die Schuldnerin auch erkannt, als sie von der Einleitung der Vollstreckungsmaßnahmen Kenntnis erlangte. Die Beklagte macht nicht geltend, dass die Schuldnerin den Vollstreckungsmaßnahmen irrtümlich keine entsprechenden Wirkungen beigemessen hat.
Die Wirkungen eines vorläufig vollstreckbaren Titels auf die Berücksichtigung streitiger Forderungen bei der Beurteilung der Zahlungsunfähigkeit i.S.d. § 17 Abs. 2 Satz 1 InsO durch den Schuldner sind allerdings umstritten. Zum Teil wird die Auffassung vertreten, für die Zahlungsunfähigkeit gem. § 17 Abs. 2 Satz 1 InsO komme es nur auf den materiellen Bestand und die materielle Fälligkeit der Forderung an, nicht aber auf die aufgrund eines formellen Titels eröffnete Möglichkeit einer Vollstreckung in das Schuldnervermögen. Andere gehen davon aus, dass eine vorläufig vollstreckbar titulierte Forderung bei der Beurteilung der Zahlungsunfähigkeit in voller Höhe zu berücksichtigen sei. Eine dritte Ansicht meint, streitige Forderungen seien bei der Beurteilung der Zahlungsunfähigkeit durch den Schuldner nur mit einem Anteil ihres Nennwerts anzusetzen.
Richtigerweise ist zu unterscheiden. Für die Beurteilung der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners kommt es auf die objektive Rechtslage an. Dies gilt insbesondere für die Frage, ob Verbindlichkeiten tatsächlich bestehen und fällig sind. Liegt hinsichtlich der Forderung ein vorläufig vollstreckbarer Titel vor, wirkt sich dies jedoch hinsichtlich der Beweislast für das Bestehen streitiger Forderungen aus. Danach ist eine streitige Forderung, über die ein vorläufig vollstreckbarer Titel vorliegt, in Höhe des Nennwerts der titulierten Forderung zu berücksichtigen, wenn die Voraussetzungen für eine Vollstreckung aus dem Titel vorliegen und der Titelgläubiger die Vollstreckung eingeleitet hat.
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BGH online
Der Kläger ist Verwalter in dem auf Eigenantrag vom 3.7.2012 am 1.10.2012 eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der G. AG (Schuldnerin). Die Beklagte ist eine Partnerschaft von Rechtsanwälten, welche die Schuldnerin außergerichtlich und gerichtlich beriet und vertrat. Die Schuldnerin vergütete die Leistungen der Beklagten durch Zahlungen. Soweit für das Revisionsverfahren noch von Interesse, nimmt der Kläger die Beklagte unter dem Gesichtspunkt der Vorsatzanfechtung auf Rückgewähr von sieben Einzelzahlungen i.H.v. insgesamt rd. 90.000 € in Anspruch, welche die Schuldnerin im Zeitraum vom 1.6.2011 bis 21.12.2011 an die Beklagte geleistet hat. Die Parteien streiten darüber, ob die Schuldnerin die Zahlungen mit dem Vorsatz vorgenommen hat, ihre Gläubiger zu benachteiligen. Der Kläger behauptet insbesondere, die Schuldnerin sei erkanntermaßen zahlungsunfähig gewesen.
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Richtigerweise ist zu unterscheiden. Für die Beurteilung der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners kommt es auf die objektive Rechtslage an. Dies gilt insbesondere für die Frage, ob Verbindlichkeiten tatsächlich bestehen und fällig sind. Liegt hinsichtlich der Forderung ein vorläufig vollstreckbarer Titel vor, wirkt sich dies jedoch hinsichtlich der Beweislast für das Bestehen streitiger Forderungen aus. Danach ist eine streitige Forderung, über die ein vorläufig vollstreckbarer Titel vorliegt, in Höhe des Nennwerts der titulierten Forderung zu berücksichtigen, wenn die Voraussetzungen für eine Vollstreckung aus dem Titel vorliegen und der Titelgläubiger die Vollstreckung eingeleitet hat.
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