17.07.2014

Zur Ausübung des Rechtsanwaltsberufs unter der in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen Berufsbezeichnung

In einen Mitgliedstaat zurückzukehren, um dort den Rechtsanwaltsberuf unter der in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen Berufsbezeichnung auszuüben, stellt keine missbräuchliche Praktik dar. Die Möglichkeit der Angehörigen eines Mitgliedstaats der Union, den Mitgliedstaat, in dem sie ihre Berufsbezeichnung erwerben wollen, und den Mitgliedstaat, in dem sie ihren Beruf ausüben möchten, zu wählen, wohnt der Ausübung der von den Verträgen gewährleisteten Grundfreiheiten inne.

EuGH 17.7.2014, C-58/13 u.a.
Hintergrund:
Die Richtlinie über die Niederlassung von Rechtsanwälten zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Berufsqualifikation erworben wurde, soll die ständige Ausübung des Rechtsanwaltsberufs (als Selbständiger oder abhängig Beschäftigter) in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Berufsqualifikation erworben wurde, erleichtern. Dabei darf der Beruf allerdings nur unter der ursprünglichen Berufsbezeichnung ausgeübt werden. Die Richtlinie sieht vor, dass die zuständige Stelle des Mitgliedstaats, in dem sich der Rechtsanwalt niederlässt, die Eintragung des Rechtsanwalts anhand einer Bescheinigung über dessen Eintragung bei der zuständigen Stelle des Mitgliedstaats vornimmt, in dem ihm die Berufsbezeichnung verliehen wurde.

Der Sachverhalt:
Zwei italienische Staatsangehörige erwarben, nachdem sie in Italien ihren Universitätsabschluss in Rechtswissenschaften erhalten hatten, einen Universitätsabschluss in Rechtswissenschaften in Spanien. Im Dezember 2011 wurden sie als Rechtsanwälte in das Verzeichnis der Rechtsanwaltskammer von Santa Cruz de Tenerife in Spanien eingetragen.

Im März 2012 stellten sie beim Ausschuss der Rechtsanwaltskammer Macerata (Italien) einen Antrag auf Eintragung in die "Sonderabteilung des Anwaltsverzeichnisses". Diese Sonderabteilung umfasst die Rechtsanwälte, die eine in einem anderen Mitgliedstaat als Italien verliehene Berufsbezeichnung innehaben, aber in Italien niedergelassen sind. Da der Ausschuss der Rechtsanwaltskammer Macerata innerhalb der vorgesehenen Frist keine Entscheidung erließ, befassten die beiden Anwälte den Ausschuss der gesamtstaatlichen Rechtsanwaltskammer Italiens (CNF) und begehrten eine Entscheidung über ihre Eintragungsanträge.

Sie machen geltend, dass die Eintragungen nach der geltenden Regelung nur von einer einzigen Voraussetzung abhingen, nämlich der Vorlage der "Bescheinigung über die Eintragung bei der zuständigen Stelle des Herkunftsmitgliedstaats" (hier: Spanien). Da diese Voraussetzung vorliegend erfüllt war, hätten die Anwälte ihrer Ansicht nach in das Verzeichnis eingetragen werden müssen. Der CNF vertritt die Auffassung, die Anwälte könnten sich nicht auf die Richtlinie über die Niederlassung von Rechtsanwälten berufen, wenn der Erwerb der Berufsbezeichnung in Spanien lediglich dazu diene, das italienische Recht über den Zugang zum Rechtsanwaltsberuf zu umgehen, und damit eine missbräuchliche Ausnutzung der Niederlassungsfreiheit darstelle.

Der CNF möchte nun vom EuGH wissen, ob die zuständigen Stellen eines Mitgliedstaats dessen Angehörigen, die sich nach dem Erwerb eines Universitätsabschlusses im eigenen Land in einen anderen Mitgliedstaat begeben haben, um dort die Qualifikation für den Rechtsanwaltsberuf zu erwerben, und anschließend in den ersten Mitgliedstaat zurückgekehrt sind, um dort den Rechtsanwaltsberuf unter der im zweiten Staat erlangten Berufsbezeichnung auszuüben, die Eintragung in das Anwaltsverzeichnis wegen Rechtsmissbrauchs verweigern dürfen.

Die Gründe:
Es stellt keine missbräuchliche Praktik dar, wenn sich ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, der einen Universitätsabschluss innehat, in einen anderen Mitgliedstaat begibt, um dort die Qualifikation für den Rechtsanwaltsberuf zu erwerben, und anschließend unter der in dem anderen Mitgliedstaat erworbenen Berufsbezeichnung in das eigene Land zurückkehrt.

Die Richtlinie über die Niederlassung von Rechtsanwälten schafft einen Mechanismus der gegenseitigen Anerkennung der Berufsbezeichnungen der zuwandernden Rechtsanwälte, die unter der ursprünglichen Berufsbezeichnung arbeiten wollen. Der Unionsgesetzgeber wollte so der Unterschiedlichkeit der nationalen Eintragungsvoraussetzungen ein Ende setzen, die den Ungleichheiten und Hindernissen für die Freizügigkeit zugrunde lagen. Die Richtlinie ist also darauf gerichtet, die Voraussetzungen für die Ausübung des Niederlassungsrechts von Rechtsanwälten vollständig zu harmonisieren. Die Bescheinigung über die Eintragung im Herkunftsmitgliedstaat ist dabei die einzige Voraussetzung, an die die Eintragung des Betreffenden im Aufnahmemitgliedstaat geknüpft ist, damit dieser dort unter seiner ursprünglichen Berufsbezeichnung tätig sein kann.

Eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht ist nicht erlaubt. Ein Mitgliedstaat ist daher berechtigt, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um zu verhindern, dass sich seine Staatsangehörigen in missbräuchlicher Weise dem nationalen Recht entziehen. Die Feststellung einer missbräuchlichen Praxis verlangt das Vorliegen eines objektiven Elements (nämlich, dass das Ziel der Unionsregelung trotz deren formaler Einhaltung nicht erreicht wurde) und eines subjektiven Elements (nämlich, dass die Absicht, sich einen ungerechtfertigten Vorteil zu verschaffen, ersichtlich ist). Die Möglichkeit der Angehörigen eines Mitgliedstaats der Union, den Mitgliedstaat, in dem sie ihre Berufsbezeichnung erwerben wollen, und den Mitgliedstaat, in dem sie ihren Beruf ausüben möchten, zu wählen, wohnt im Binnenmarkt der Ausübung der von den Verträgen gewährleisteten Grundfreiheiten inne.

Der Umstand, dass sich ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, der im eigenen Land einen Universitätsabschluss erworben hat, in einen anderen Mitgliedstaat begibt, um die Berufsbezeichnung eines Rechtsanwalts zu erwerben, und danach ins eigene Land zurückkehrt, um dort den Rechtsanwaltsberuf unter der in dem anderen Mitgliedstaat erlangten Berufsbezeichnung auszuüben, ist die Konkretisierung eines der Ziele der Richtlinie und stellt keine missbräuchliche Ausnutzung des Niederlassungsrechts dar. Ebenso wenig stellt es einen Rechtsmissbrauch dar, dass die Eintragung in das Anwaltsverzeichnis kurze Zeit nach dem Erwerb der Berufsbezeichnung im Herkunftsmitgliedstaat beantragt wurde, da die Richtlinie nicht die Absolvierung einer praktischen Verwendung im Herkunftsmitgliedstaat vorschreibt.

Linkhinweis:

Für den auf den Webseiten des EuGH veröffentlichten Volltext der Entscheidung klicken Sie bitte hier.

EuGH PM Nr. 103 vom 17.7.2014
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