24.04.2015

Zur notwendigen Transparenz eines Versicherungsvertrags hinsichtlich der wirtschaftlichen Folgen der Versicherung

Ein Versicherungsvertrag muss die Funktionsweise der Versicherung transparent, genau und nachvollziehbar darstellen, damit der Verbraucher die wirtschaftlichen Folgen einschätzen kann. Die Tatsache, dass der Versicherungsvertrag mit gleichzeitig abgeschlossenen Darlehensverträgen verbunden ist, kann bei der Prüfung der Einhaltung des Transparenzerfordernisses der Vertragsklauseln eine Rolle spielen, da davon auszugehen ist, dass der Verbraucher nicht die gleiche Aufmerksamkeit hinsichtlich des Umfangs der abgedeckten Risiken walten lassen wird.

EuGH 23.4.2015, C-96/14
Hintergrund:
Die Richtlinie über missbräuchliche Klauseln sieht vor, dass missbräuchliche Klauseln, die in einem mit einem Gewerbetreibenden geschlossenen Vertrag enthalten sind, für die Verbraucher nicht verbindlich sind. Nach der Richtlinie betrifft die Beurteilung der Missbräuchlichkeit der Klauseln jedoch weder den Hauptgegenstand des Vertrags noch die Angemessenheit des Verhältnisses zwischen Preis und Entgelt einerseits und den die Gegenleistung bildenden Dienstleistungen oder Waren andererseits, sofern diese Klauseln klar und verständlich abgefasst sind.

Der Sachverhalt:
Im Jahr 1998 schloss der Kläger mit einem Kreditinstitut zwei Hypothekardarlehensverträge über einen Betrag von etwa 68.000 € ab. Bei Abschluss dieser Darlehen trat er einem "Gruppenversicherungsvertrag" der CNP Assurances bei, der u.a. die Übernahme von 75 Prozent der Zahlungsverpflichtungen im Fall der vollständigen Arbeitsunfähigkeit gewährleisten sollte. Infolge eines Arbeitsunfalls wurde der Kläger nach französischem Sozialversicherungsrecht zu einem Grad von 72 Prozent dauerhaft teilweise arbeitsunfähig. Der vom Versicherungsunternehmen beauftragte Arzt kam zu dem Schluss, dass der Gesundheitszustand des Klägers ihm zwar nicht die Wiederaufnahme seines früheren Berufs, wohl aber die Ausübung einer angepassten Teilzeitberufstätigkeit ermögliche. Das Unternehmen lehnte es daher ab, weiterhin die Zahlungsverpflichtungen aus dem Darlehen wegen der Arbeitsunfähigkeit zu übernehmen.

Der Kläger begehrt mit seiner Klage die Feststellung, dass die Vertragsklauseln in Bezug auf die Definition der vollständigen Arbeitsunfähigkeit und die Bedingungen, unter denen die Zahlungsverpflichtungen von der Versicherung übernommen werden, missbräuchlich sind. Nach Ansicht des Klägers schafft die Klausel über die vollständige Arbeitsunfähigkeit ein erhebliches Ungleichgewicht zum Nachteil des Verbrauchers, zumal ihre Definition für einen normalen Verbraucher unverständlich sei. Die CNP Assurances ist der Ansicht, dass die betreffende Klausel nicht missbräuchlich sein könne, weil sie den Gegenstand des Vertrags betreffe. Zudem sei die Definition der vollständigen Arbeitsunfähigkeit klar und eindeutig, auch wenn sich die zur Feststellung des Grades der Arbeitsunfähigkeit herangezogenen Kriterien von den im Bereich der Sozialversicherung geltenden unterschieden.

In diesem Zusammenhang möchte das mit dem Rechtsstreit befasste französische Gericht vom EuGH im Wege des Vorabentscheidungsersuchens wissen, ob die betreffende Klausel möglicherweise als missbräuchlich einzustufen ist.

Die Gründe:
Klauseln in Versicherungsverträgen, die das versicherte Risiko und die Verpflichtung des Versicherers klar festlegen oder abgrenzen, sind nicht Gegenstand einer Beurteilung der Missbräuchlichkeit, sofern diese Einschränkungen bei der Berechnung der vom Verbraucher gezahlten Prämie Berücksichtigung finden. Daher ist es nicht ausgeschlossen, dass die streitige Klausel den eigentlichen Gegenstand des Vertrags betrifft, da sie offenbar das versicherte Risiko und die Verpflichtung des Versicherers begrenzt und zugleich die Hauptleistung des Versicherungsvertrags festlegt. Es ist Sache des nationalen Gerichts, dies zu prüfen. Unter Berücksichtigung der Natur, der Systematik und sämtlicher Vertragsbestimmungen sowie des rechtlichen und tatsächlichen Kontexts wird festzustellen sein, ob die Klausel eine Hauptleistung des Vertragswerks festlegt, zu dem sie gehört.

Hinsichtlich der Frage, ob die streitige Klausel klar und verständlich abgefasst ist, gilt, dass das von der Richtlinie aufgestellte Erfordernis der Transparenz von Vertragsklauseln nicht auf deren bloße Verständlichkeit in formeller und grammatikalischer Hinsicht beschränkt werden kann. Vielmehr muss es umfassend verstanden werden. Es ist vorliegend nicht auszuschließen, dass die Tragweite der Klausel, die den Begriff der vollständigen Arbeitsunfähigkeit definiert, vom Verbraucher nicht erfasst wurde. Es ist durchaus vorstellbar, dass der Kläger mangels einer transparenten Erläuterung der konkreten Funktionsweise der die Übernahme der Zahlungsverpflichtungen des Darlehens im Rahmen des Vertragswerks betreffenden Versicherung nicht in der Lage war, die sich daraus für ihn ergebenden wirtschaftlichen Folgen auf der Grundlage genauer und nachvollziehbarer Kriterien einzuschätzen. Auch dies hat das nationale Gericht zu prüfen.

Auch der Umstand, dass der Versicherungsvertrag zusammen mit den Darlehensverträgen Teil eines Vertragswerks ist, könnte insoweit relevant sein. Es kann vom Verbraucher nicht verlangt werden, die gleiche Aufmerksamkeit hinsichtlich des Umfangs der vom Versicherungsvertrag abgedeckten Risiken walten zu lassen, wie wenn er den Versicherungsvertrag und die Darlehensverträge getrennt abgeschlossen hätte. Die Klauseln, die den Hauptgegenstand eines Versicherungsvertrags betreffen, können als klar und verständlich abgefasst angesehen werden, wenn sie für den Verbraucher nicht nur grammatikalisch nachvollziehbar sind, sondern auch die konkrete Funktionsweise der Versicherung unter Berücksichtigung des Vertragswerks, zu dem sie gehören, transparent darstellen. Der Verbraucher muss in der Lage sein, die sich daraus für ihn ergebenden wirtschaftlichen Folgen auf der Grundlage genauer und nachvollziehbarer Kriterien einzuschätzen. Andernfalls kann sich das nationale Gericht mit der etwaigen Missbräuchlichkeit der betreffenden Klausel befassen.

Linkhinweis:

Für den auf den Webseiten des EuGH veröffentlichten Volltext der Entscheidung klicken Sie bitte hier.

EuGH PM Nr. 42 vom 23.4.2015
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