07.08.2023

Bindung der Versicherung an Auskunft der eigens angebotenen Medizinischen Stornoberatung

Zwar darf eine Partei ihre Rechtsansicht durchaus ändern. Missbräuchlich ist widersprüchliches Verhalten aber dann, wenn für den anderen Teil ein Vertrauenstatbestand entstanden ist oder wenn andere besondere Umstände die Rechtsausübung als treuwidrig erscheinen lassen. Es muss objektiv das Gesamtbild eines widersprüchlichen Verhaltens vorliegen.

AG München v. 16.2.2023, 122 C 7243/22
Der Sachverhalt:
Die Freundin der Klägerin hatte für sich und die Klägerin eine 5-tägige Pauschalreise nach Ibiza für September 2021 zu einem Gesamtpreis von 1.410 € gebucht und bei der Beklagten für beide eine Reiserücktrittsversicherung abgeschlossen. Die Versicherungsbedingungen der Beklagten enthielten folgende Bestimmungen:

"Ihr Service-Plus in der Stornokosten-Versicherung:
Ist Ihre Reise aufgrund von Krankheit, Unfall oder aus anderen Gründen gefährdet? Sind Sie sich unsicher, ob sie ihre Reise antreten können oder doch stornieren müssen? Unsere telefonische Stornoberatung gibt Ihnen hier die richtige Empfehlung. (...)

2.2 Wir unterstützen Sie bei der Entscheidung, ob und wann sie ihre Reise stornieren sollten. (...)

14.3 Haben Sie die medizinische Stornoberatung eingeschaltet und
A) empfiehlt diese, die Reise zu stornieren? Dann sind Sie verpflichtet, ihre Reise unverzüglich zu stornieren. ..."


Bei der seit 2017 an Morbus Basedow leidenden Klägerin wurde kurz vor Reisebeginn ein Knoten im Bereich der Schilddrüse festgestellt und als frühester Termin für die weitere medizinische Abklärung der Tag vor der geplanten Abreise angeboten. Die Ärztin der von der Klägerin daraufhin in Anspruch genommenen Medizinischen Stornoberatung der Beklagten riet telefonisch zur Stornierung der Reise, was beide umgehend taten.

Die Beklagte verweigerte den von der Klägerin geltend gemachten Ersatz der Stornokosten. Sie war der Ansicht, die von ihr angebotene Medizinische Stornoberatung würde nur in Bezug auf den Zeitpunkt der Stornierung beraten. Über die grundsätzliche Frage, ob überhaupt ein versichertes Ereignis vorläge, würde jedoch erst im Rahmen der Schadenbearbeitung befunden und entschieden.

Das AG gab der Klage vollumfänglich statt. Das Urteil ist rechtskräftig.

Die Gründe:
Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Erstattung der Stornierungskosten gemäß der zwischen den Parteien geschlossenen Reiserücktritts-Versicherung i.V.m. § 242 BGB.

Die Beklagte muss sich nach dem Grundsatz des venire contra factum proprium an dem festhalten lassen, was die Ärztin der Medizinischen Stornoberatung der Klägerin in dem Telefongespräch geraten hat. Zwar darf eine Partei ihre Rechtsansicht durchaus ändern. Missbräuchlich ist widersprüchliches Verhalten aber dann, wenn für den anderen Teil ein Vertrauenstatbestand entstanden ist oder wenn andere besondere Umstände die Rechtsausübung als treuwidrig erscheinen lassen. Es muss objektiv das Gesamtbild eines widersprüchlichen Verhaltens vorliegen, weil das frühere Verhalten mit dem späteren unvereinbar ist und die Interessen der Gegenpartei im Hinblick hierauf vorrangig schutzwürdig sind. Ein Verschulden ist dabei nicht erforderlich.

Die Beklagte hatte mit ihrer Beratung gegenüber der Klägerin einen Vertrauenstatbestand geschaffen, dass die Stornierung der Reise den vertraglichen Voraussetzungen der Reiserücktrittsversicherung entsprach. In Ziffer 2.2 der AVB wird die Leistung der Medizinischen Stornoberatung dahingehend konkretisiert, dass eine Unterstützung bei der Entscheidung angeboten wird, ob und wann die Vertragspartei ihre versicherte Reise stornieren soll. Nach der offenen Formulierung der Vertragsbedingung war davon auszugehen, dass die Medizinische Stornoberatung nicht nur in Bezug auf den Zeitpunkt der Stornierung berät, sondern auch darüber, ob überhaupt ein Stornierungsgrund im Sinne einer unerwarteten schweren Erkrankung gegeben ist. Die Beklagte weist schließlich selbst im Versicherungsschein darauf hin, dass die Medizinische Stornoberatung die "richtige" Empfehlung gibt und empfiehlt die Durchführung bei Unsicherheiten über das Eintreten des Versicherungsfalls.

Warum die Beklagte den Versicherungsnehmern ihre Medizinische Stornoberatung überhaupt als Entscheidungsgrundlage empfiehlt, wenn sie selbst meint, sich an die Empfehlungen ihrer eigenen Beratung nicht halten zu müssen, blieb äußerst fraglich. Der diesbezügliche Vortrag der Beklagten stand im eklatantem Widerspruch zu Ziff. 2 und 14 ihrer eigenen AVB. Die Auskunft der Ärztin der Medizinischen Stornoberatung muss sich die Beklagte gem. § 278 S. 1 BGB auch zurechnen lassen, sie hat sich dieser insoweit als Erfüllungsgehilfin bedient.

Mehr zum Thema:

Aufsatz:
Pauschalreiserecht: Die COVID-19-Pandemie und das Recht zum kostenlosen Rücktritt vor Reisebeginn
Klaus Tonner, MDR 2023, 1

Aufsatz:
Die Entwicklungen des Pauschalreiserechts im Jahr 2021
Charlotte Achilles-Pujol, MDR 2022, 1377

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AG München - Pressemitteilung v. 31.7.2023
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