12.09.2022

Gesetzliche Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses entfällt bei objektiver Willkür

Sind die einem Verweisungsbeschluss zugrundeliegenden rechtlichen Annahmen unter keinem denkbaren Gesichtspunkt mehr vertretbar, kann dies die Annahme objektiver Willkür rechtfertigen und die gesetzliche Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses (§ 281 Abs. 2 S. 4 ZPO) entfallen lassen. Weist das Gericht eine anwaltlich nicht vertretene Partei unter evidenter Verkennung der Rechtslage auf seine angebliche Unzuständigkeit hin, so sind auch der daraufhin vom Kläger gestellte Verweisungsantrag und ein Einverständnis des Beklagten mit der Verweisung nicht geeignet, der rechtswidrigen Verweisung ihren Willkürcharakter zu nehmen.

KG Berlin v. 18.8.2022 - 2 AR 34/22
Der Sachverhalt:
Die Beklagte betreibt ein Einzelhandelsgeschäft. Die Parteien stritten um die Rechtmäßigkeit eines Hausverbots, das die Beklagte dem Kläger erteilt hatte. Mit einer an das AG Berlin-Mitte gerichteten und als "Unterlassungsklage" bezeichneten Eingabe vom 31.5.2022 hat der anwaltlich nicht vertretene Kläger beantragt, die Beklagte zu verurteilen, es zu unterlassen, ihm grundlos ein Hausverbot zu erteilen. Zur Begründung hat er geltend gemacht, die Beklagte wolle sich mit Hilfe willkürlicher Hausverbote ihrer Verpflichtung zur Rücknahme von Einweggetränkeverpackungen entziehen.

Das AG Mitte hat die Klage - ohne vorherige Anforderung eines Gerichtskostenvorschusses und ohne die Bestimmung eines frühen ersten Termins zur mündlichen Verhandlung oder die Anordnung des schriftlichen Vorverfahrens - zugestellt und mit einer Verfügung vom 7.6.2022 darauf hingewiesen, dass Bedenken gegen seine sachliche Zuständigkeit bestünden, "weil es sich um eine Unterlassungsklage" handele, "für die gem. § 6 Abs. 1 Satz 1 UKlaG das LG ausschließlich zuständig" sei. Die Beklagte hat dem zugestimmt.

Der nach wie vor nicht durch einen Rechtsanwalt vertretene Kläger hat hierauf, wie in der Eingangsverfügung des Amtsgerichts angeregt, eine Verweisung des Rechtsstreits an das LG beantragt. Das AG Mitte hat sich sodann für sachlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das LG verwiesen. Zur Begründung hat es lediglich den Hinweis aus seiner Eingangsverfügung wiederholt.

Das LG sah sich durch die Verweisung in seiner Zuständigkeit nicht gebunden, hat sich ebenfalls für sachlich unzuständig erklärt und die Sache dem KG zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt. Das KG hat das AG Mitte als sachlich zuständige Gericht bestimmt.

Die Gründe:
Das AG Mitte ist für die Entscheidung des Rechtsstreits sachlich zuständig, weil der Zuständigkeitsstreitwert 5.000 € nicht übersteigt und auch eine streitwertunabhängige Zuständigkeit des LG nicht ersichtlich ist, §§ 23 Nr. 1, 71 Abs. 1 GVG. Es hat seine Zuständigkeit ferner auch nicht durch den von ihm erlassenen Verweisungsbeschluss verloren, weil dieser als objektiv willkürlich anzusehen ist, was seine gesetzliche Bindungswirkung nach § 281 Abs. 2 S. 4 ZPO ausnahmsweise entfallen lässt.

Es sind keinerlei Anhaltspunkte für das Vorliegen einer streitwertunabhängigen Zuständigkeit des LG nach § 6 Abs. 1 Satz 1 UKlaG ersichtlich. Eine Streitigkeit nach dem UKlaG liegt bereits deshalb nicht vor, weil der Kläger ganz offensichtlich keine nach § 3 UKlaG anspruchsberechtigte Stelle ist. Nach h.M. regelt § 3 UKlaG nicht nur die Prozessführungsbefugnis, sondern auch die Aktivlegitimation (Anspruchsberechtigung) für Ansprüche nach §§ 1, 1a, 2 und 4a UKlaG, die erst durch § 3 zu vollständigen Anspruchsgrundlagen werden, weshalb sie vom BGH zumeist auch zusammen als Anspruchsgrundlage zitiert werden. Bei dieser Sachlage ist nicht ersichtlich, woraus sich in dem hier vorliegenden Fall eine ausschließliche sachliche Zuständigkeit des LG nach § 6 Abs. 1 Satz 1 UKlaG ergeben könnte.

Das AG Mitte hat seine Zuständigkeit schließlich auch nicht aufgrund der Bindungswirkung seines Verweisungsbeschlusses verloren. Denn dieser Beschluss stellte sich nach den Umständen des Falles als objektiv willkürlich dar, weshalb ihm die Bedingungswirkung ausnahmsweise zu versagen war. Sind die einem Verweisungsbeschluss zugrundeliegenden rechtlichen Annahmen unter keinem denkbaren Gesichtspunkt mehr vertretbar, kann dies die Annahme objektiver Willkür rechtfertigen und die gesetzliche Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses (§ 281 Abs. 2 S. 4 ZPO) entfallen lassen.

Ein solcher Fall liegt hier vor. Denn die dem Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Mitte zu Grunde liegende Annahme, dass für die Klage eine streitwertunabhängige Zuständigkeit des LG bestehen soll, ist unter keinem in Betracht kommenden Gesichtspunkt mehr nachvollziehbar. Weist das Gericht eine anwaltlich nicht vertretene Partei unter evidenter Verkennung der Rechtslage auf seine angebliche Unzuständigkeit hin, so sind auch der daraufhin vom Kläger gestellte Verweisungsantrag und ein Einverständnis des Beklagten mit der Verweisung nicht geeignet, der rechtswidrigen Verweisung ihren Willkürcharakter zu nehmen.

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Rechtsprechung
Voraussetzung für ein Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Gerichts
KG vom 15.03.2022 - 1 AR 9/22
MDR 2022, 788

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