20.09.2023

Gilt die Unsinnigkeit eines "Dauerrot"-Gebotes für alle Verkehrsteilnehmer?

Zeigt eine Wechsellichtzeichenanlage aufgrund einer technischen Funktionsstörung dauerhaft Rot, so ist der darin liegende Verwaltungsakt nichtig i.S.d. § 44 VwVfG, weil die Dauer des gezeigten Rotlichts in diesem Fall nicht mehr auf dem vom menschlichen Willen getragenen Schaltplan - der Programmierung durch die Verkehrsbehörde - beruht und sich die Unsinnigkeit eines "Dauerrot"-Gebotes ohne weiteres aufdrängt. Diese Rechtsprechung findet nicht nur auf Kraftfahrer Anwendung, sondern auf alle Verkehrsteilnehmer, für die das Lichtzeichen im konkreten Fall Geltung beansprucht.

OLG Hamburg v. 11.9.2023 - 5 ORbs 25/23
Der Sachverhalt:
Die Betroffene war am 24.7.2022 gegen 20:15 Uhr auf dem Fahrrad unterwegs. Sie hielt vor einer roten Ampel. Vor der Lichtzeichenanlage, die nicht defekt war, aber mit einer Kontaktschleife ausgestattet, wartete die Betroffene mehrere Minuten lang, ohne dass diese auf Grün umschaltete. Wie lange sie genau gewartet hatte, konnte das AG nicht feststellen; es ging jedoch zu Gunsten der Betroffenen davon aus, dass die Wartezeit zumindest fünf Minuten betrug. Da die Betroffene einen Defekt der Ampel vermutet hatte, überquerte sie die Kreuzung bei Rot. Niemand wurde durch dieses Handeln gefährdet. Die Betroffene hätte aber die Möglichkeit gehabt, abzusteigen und die Kreuzung mit Hilfe einer auf der rechten Seite befindlichen, mit einem Anfrageknopf ausgestatteten Fußgängerbedarfsampel zu überqueren.

Das AG hat das Tatgeschehen als vorsätzlichen, qualifizierten Rotlichtverstoß gem. §§ 37 Abs. 2 S. 2 Nr. 1 und 6, 49 Abs. 3 Nr. 2 StVO i.V.m. § 24 StVG gewertet und hat gegen die Betroffene eine Geldbuße i.H.v. 100 € verhängt. Es war der Ansicht, dass der Fall nicht vergleichbar sei mit den Fällen, in denen ein Kraftfahrer bei einer defekten Lichtzeichenanlage nach minutenlangem Warten an einer nicht auf Grün umspringenden Ampel vorsichtig in die Kreuzung hineinfahren darf. Auch wenn die Betroffene von einem Defekt der Ampel ausgegangen sei, habe sie als Radfahrerin die Kreuzung nicht bei Rot überqueren dürfen. Anders als einem Kraftfahrer sei es ihr möglich gewesen, vom Fahrrad abzusteigen und die nur wenige Meter entfernte Fußgängerampel zu benutzen.

Auf die hiergegen gerichtete Rechtsbeschwerde der Betroffenen hat das OLG das Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das AG zurückverwiesen.

Die Gründe:
Eine Verurteilung wegen vorsätzlichen Rotlichtverstoßes war schon auf der Grundlage der amtsgerichtlichen Feststellungen ausgeschlossen, denn danach hatte sich die Betroffene in einem den Vorsatz ausschließenden Tatbestandsirrtum befunden.

Nach inzwischen einhelliger Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum handelt es sich bei dem von einer Lichtzeichenanlage gezeigten Rotlicht um einen Verwaltungsakt in Form einer Allgemeinverfügung, der den betroffenen Verkehrsteilnehmern gebietet, vor der Kreuzung zu halten (§ 37 Abs. 2 Nr. 1 S. 7 StVO). Zeigt eine Wechsellichtzeichenanlage allerdings aufgrund einer technischen Funktionsstörung dauerhaft Rot, so ist der darin liegende Verwaltungsakt nichtig i.S.d. § 44 VwVfG, weil die Dauer des gezeigten Rotlichts in diesem Fall nicht mehr auf dem vom menschlichen Willen getragenen Schaltplan - der Programmierung durch die Verkehrsbehörde - beruht und sich die Unsinnigkeit eines "Dauerrot"-Gebotes ohne weiteres aufdrängt.

Diese Rechtsprechung findet nicht nur auf Kraftfahrer Anwendung, sondern auf alle Verkehrsteilnehmer, für die das Lichtzeichen im konkreten Fall Geltung beansprucht. Geklärt ist in der obergerichtlichen Rechtsprechung zudem, dass sich die irrtümliche Annahme einer zum "Dauerrot" führenden Funktionsstörung der Lichtzeichenanlage als Fehlvorstellung im tatsächlichen Bereich darstellt, die als vorsatzausschließender Tatbestandsirrtum zu qualifizieren ist. Und von einer solchen Fehlvorstellung war nach den Feststellungen des AG auch die Betroffene ausgegangen.

Für eine Verurteilung wegen eines - gleich ob vorsätzlich oder fahrlässig begangenen - Rotlichtverstoßes konnte zudem nicht offenbleiben, ob die Kontaktschleife, mit der die Bedarfslichtzeichenanlage ausgestattet ist, durch Radfahrende überhaupt ausgelöst werden konnte. Das AG hat hierzu keine abschließenden Feststellungen getroffen. Soweit es in den Gründen des angefochtenen Urteils hieß, dass die Ampel keinen "Defekt" aufgewiesen habe, war damit ersichtlich nur gemeint, dass die Anlage im Tatzeitpunkt plangemäß funktionierte. Dies hat die Möglichkeit offengelassen, dass die Anlage technisch von vornherein so ausgelegt war, dass die Kontaktschleife nur von Kraftfahrzeugen, nicht aber von Radfahrenden ausgelöst werden konnte. Andererseits war auch nicht positiv festgestellt, dass es sich in diesem zuletzt genannten Sinne verhielt.

Ein fahrlässiger Rotlichtverstoß kommt im weiteren Verfahren in Betracht, wenn die Beweisaufnahme ergeben sollte, dass die Kontaktschleife im Tatzeitpunkt auch durch Radfahrende ausgelöst werden konnte. Voraussetzung hierfür wäre allerdings, dass die - dann irrtümliche - Annahme der Betroffenen, die Ampel zeige defektbedingt "Dauerrot", ihrerseits auf Fahrlässigkeit beruhte (vgl. § 16 Abs. 1 S. 2 StGB). Ob dies der Fall war, wird aufgrund der Umstände des Einzelfalles festzustellen sein, wobei der tatsächlichen Wartezeit vor der Rotlicht zeigenden Lichtzeichenanlage ein erhebliches Gewicht zukommen wird.

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