Haftung nach schweizerischem Straßenverkehrsrecht bei Unaufklärbarkeit des Unfalls
OLG Saarbrücken v. 5.6.2025, 3 U 65/24
Der Sachverhalt:
Der Kläger war am 23.10.2021 auf einer Autobahn in der Schweiz unterwegs. Er befuhr bei hohem Verkehrsaufkommen die äußerste rechte Spur der vierspurigen Strecke, nachdem er zuvor einen Spurwechsel von der zweiten Spur von rechts, auf der sich die Fahrzeuge im Kolonnenverkehr bewegten, durchgeführt hatte. Der Zeuge X. fuhr in derselben Fahrtrichtung und kollidierte mit seinem bei der Beklagten haftpflichtversicherten Fahrzeug zunächst auf der zweiten Spur von rechts mit dem Fahrzeug der Zeugin Y., das dadurch auf das vor ihr fahrende Fahrzeug des Zeugen Z. aufgeschoben wurde, und danach auf der äußersten rechten Spur mit dem klägerischen Fahrzeug.
Der Kläger ließ sein Fahrzeug für netto 13.366 € instandsetzen. Später machte er gerichtlich zunächst die angefallenen Nettoreparaturkosten, Nutzungsausfall für fünf Tage i.H.v. 325 € und Ersatz einer Wertminderung i.H.v. 1.500 € geltend sowie Zahlung von 15.879 € nebst Zinsen und Anwaltskosten. Nach Inanspruchnahme seiner Kaskoversicherung, die 12.866 € auf den Fahrzeugschaden gezahlt hatte, hat der Kläger seine Klage teilweise zurückgenommen und zuletzt beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an ihn 2.325 € bw. 953 € zu zahlen.
Das LG hat der Klage teilweise stattgegeben. Es ist dabei von einer Alleinhaftung des Zeugen X. nach schweizerischem Straßenverkehrsrecht ausgegangen. Mit ihrer Berufung rügte die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts. Der Erstrichter habe für die Anwendung des Anscheinsbeweises auf die Regeln des Prozessrechts zurückgegriffen, obwohl insoweit das schweizerische Sachrecht gelte, das einen Anscheinsbeweis in einem solchen Fall nicht kenne.
Das OLG hat das Urteil des LG abgeändert und die Klage abgewiesen.
Die Gründe:
Zwar war der Erstrichter von zutreffenden Grundsätzen hinsichtlich des Haftungssystems bei Verkehrsunfällen nach schweizerischem Recht ausgegangen. Nach Art. 61 Abs. 2 des Schweizerischen Strassenverkehrsgesetzes (SVG) haftet ein Fahrzeughalter für einen Sachschaden eines anderen Halters nur dann, wenn der Geschädigte beweist, dass der Schaden durch Verschulden oder vorübergehenden Verlust der Urteilsfähigkeit des beklagten Halters oder einer Person, für die er verantwortlich ist, oder durch fehlerhafte Beschaffenheit seines Fahrzeuges verursacht wurde. Bei der Geltendmachung von Sachschäden zwischen Fahrzeughaltern ist mithin grundsätzlich nur das Verschulden des in Anspruch genommenen Halters als Haftungskriterium maßgebend; die Betriebsgefahr des Fahrzeugs darf insoweit nicht in Rechnung gestellt werden.
Mit Erfolg wandte sich die Berufung allerdings gegen die Feststellung des Erstrichters, der Zeuge X. habe den Unfall durch Unachtsamkeit und/oder überhöhte Geschwindigkeit allein verschuldet. Nach Überzeugung des Senats ließ sich der Unfall nicht mehr in einem für die richterliche Überzeugungsbildung nach § 286 Abs. 1 ZPO erforderlichen Umfang aufklären. Nach den Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen im erstinstanzlichen Verfahren wie auch im Berufungsverfahren blieben beide von den Parteien behauptete Unfallversionen grundsätzlich möglich, ohne dass für eine Unfallversion eine größere Wahrscheinlichkeit sprach.
Bleibt der Unfall nicht aufklärbar, lässt sich auch ein unfallursächliches Verschulden des Zeugen X. nicht beweissicher feststellen. Das Schweizerische Strassenverkehrsgesetz definiert das Verschulden nicht spezifisch; es gelten die allgemeinen Grundsätze. Als Verschulden gilt der Verstoß gegen Vorschriften, die bezwecken, Unfälle zu verhüten und Sicherheit zu schaffen. Maßgeblich ist dabei zwar nicht die subjektive Aufmerksamkeit, sondern jene - objektivierte - eines durchschnittlichen Verkehrsteilnehmers. Aber auch bei Anlegung dieses objektivierten Maßstabes ließ sich ein Verschulden des Zeugen X. nicht beweissicher feststellen. Aus den gleichen Gründen schied auch ein Schuldvorwurf wegen Verletzung der Abstandsregeln (Art. 34 Abs. 4 SVG) sowie der Grundregel des Art. 26 Abs. 1 SVG, wonach jedermann sich im Verkehr so verhalten muss, dass er andere in der ordnungsgemäßen Benützung der Straße weder behindert noch gefährdet, aus.
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Der Kläger war am 23.10.2021 auf einer Autobahn in der Schweiz unterwegs. Er befuhr bei hohem Verkehrsaufkommen die äußerste rechte Spur der vierspurigen Strecke, nachdem er zuvor einen Spurwechsel von der zweiten Spur von rechts, auf der sich die Fahrzeuge im Kolonnenverkehr bewegten, durchgeführt hatte. Der Zeuge X. fuhr in derselben Fahrtrichtung und kollidierte mit seinem bei der Beklagten haftpflichtversicherten Fahrzeug zunächst auf der zweiten Spur von rechts mit dem Fahrzeug der Zeugin Y., das dadurch auf das vor ihr fahrende Fahrzeug des Zeugen Z. aufgeschoben wurde, und danach auf der äußersten rechten Spur mit dem klägerischen Fahrzeug.
Der Kläger ließ sein Fahrzeug für netto 13.366 € instandsetzen. Später machte er gerichtlich zunächst die angefallenen Nettoreparaturkosten, Nutzungsausfall für fünf Tage i.H.v. 325 € und Ersatz einer Wertminderung i.H.v. 1.500 € geltend sowie Zahlung von 15.879 € nebst Zinsen und Anwaltskosten. Nach Inanspruchnahme seiner Kaskoversicherung, die 12.866 € auf den Fahrzeugschaden gezahlt hatte, hat der Kläger seine Klage teilweise zurückgenommen und zuletzt beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an ihn 2.325 € bw. 953 € zu zahlen.
Das LG hat der Klage teilweise stattgegeben. Es ist dabei von einer Alleinhaftung des Zeugen X. nach schweizerischem Straßenverkehrsrecht ausgegangen. Mit ihrer Berufung rügte die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts. Der Erstrichter habe für die Anwendung des Anscheinsbeweises auf die Regeln des Prozessrechts zurückgegriffen, obwohl insoweit das schweizerische Sachrecht gelte, das einen Anscheinsbeweis in einem solchen Fall nicht kenne.
Das OLG hat das Urteil des LG abgeändert und die Klage abgewiesen.
Die Gründe:
Zwar war der Erstrichter von zutreffenden Grundsätzen hinsichtlich des Haftungssystems bei Verkehrsunfällen nach schweizerischem Recht ausgegangen. Nach Art. 61 Abs. 2 des Schweizerischen Strassenverkehrsgesetzes (SVG) haftet ein Fahrzeughalter für einen Sachschaden eines anderen Halters nur dann, wenn der Geschädigte beweist, dass der Schaden durch Verschulden oder vorübergehenden Verlust der Urteilsfähigkeit des beklagten Halters oder einer Person, für die er verantwortlich ist, oder durch fehlerhafte Beschaffenheit seines Fahrzeuges verursacht wurde. Bei der Geltendmachung von Sachschäden zwischen Fahrzeughaltern ist mithin grundsätzlich nur das Verschulden des in Anspruch genommenen Halters als Haftungskriterium maßgebend; die Betriebsgefahr des Fahrzeugs darf insoweit nicht in Rechnung gestellt werden.
Mit Erfolg wandte sich die Berufung allerdings gegen die Feststellung des Erstrichters, der Zeuge X. habe den Unfall durch Unachtsamkeit und/oder überhöhte Geschwindigkeit allein verschuldet. Nach Überzeugung des Senats ließ sich der Unfall nicht mehr in einem für die richterliche Überzeugungsbildung nach § 286 Abs. 1 ZPO erforderlichen Umfang aufklären. Nach den Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen im erstinstanzlichen Verfahren wie auch im Berufungsverfahren blieben beide von den Parteien behauptete Unfallversionen grundsätzlich möglich, ohne dass für eine Unfallversion eine größere Wahrscheinlichkeit sprach.
Bleibt der Unfall nicht aufklärbar, lässt sich auch ein unfallursächliches Verschulden des Zeugen X. nicht beweissicher feststellen. Das Schweizerische Strassenverkehrsgesetz definiert das Verschulden nicht spezifisch; es gelten die allgemeinen Grundsätze. Als Verschulden gilt der Verstoß gegen Vorschriften, die bezwecken, Unfälle zu verhüten und Sicherheit zu schaffen. Maßgeblich ist dabei zwar nicht die subjektive Aufmerksamkeit, sondern jene - objektivierte - eines durchschnittlichen Verkehrsteilnehmers. Aber auch bei Anlegung dieses objektivierten Maßstabes ließ sich ein Verschulden des Zeugen X. nicht beweissicher feststellen. Aus den gleichen Gründen schied auch ein Schuldvorwurf wegen Verletzung der Abstandsregeln (Art. 34 Abs. 4 SVG) sowie der Grundregel des Art. 26 Abs. 1 SVG, wonach jedermann sich im Verkehr so verhalten muss, dass er andere in der ordnungsgemäßen Benützung der Straße weder behindert noch gefährdet, aus.
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