30.10.2025

Haushaltsführungsschaden: Keine überspannten Anforderungen an die Substantiierungspflicht des Geschädigten

Bei einer Schadensschätzung nach § 287 ZPO ist vom Tatrichter zu beachten, dass im Rahmen des § 287 ZPO nicht die gleichen Anforderungen an die Substantiierung gestellt werden können wie in anderen Fällen. Denn diese Vorschrift erleichtert dem Geschädigten nicht nur die Beweisführung, sondern auch die Darlegungslast. Auch findet sich im Prozessrecht keine Grundlage, Parteivortrag nur deshalb unberücksichtigt zu lassen, weil er im Widerspruch zu vorangegangenem, ausdrücklich aufgegebenem Vortrag steht. Im Gegenteil ist eine Partei nicht daran gehindert, ihr Vorbringen im Laufe des Rechtsstreits zu ändern, insbesondere zu präzisieren, zu ergänzen oder zu berichtigen; eine Vortragsänderung kann nur bei der Beweiswürdigung Bedeutung erlangen.

BGH v. 29.7.2025 - VI ZB 57/24
Der Sachverhalt:
Die Klägerin nimmt die Beklagten auf materiellen und immateriellen Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall vom 29.4.2008 in Anspruch, bei dem sie schwer verletzt wurde. Die alleinige Haftung der Beklagten für die der Klägerin aufgrund des Unfalls entstandenen Schäden steht zwischen den Parteien dem Grunde nach außer Streit. Der Umfang der unfallursächlichen Verletzungsfolgen sowie die Höhe der der Klägerin zustehenden materiellen und immateriellen Schadensersatzansprüche sind zwischen den Parteien jedoch streitig. Die Klägerin ist der Ansicht, aufgrund der Unfallfolgen sei ein Schmerzensgeld i.H.v. insgesamt 200.000 € angemessen (gezahlt hat die Beklagte zu 1) bereits 40.000 €), und macht darüber hinaus - soweit hier noch von Interesse - Ansprüche auf Ersatz von Verdienstausfall, Haushaltsführungsschaden, sonstigem Mehrbedarfsschaden und auf Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten geltend.

Das LG sprach der Klägerin ein weiteres Schmerzensgeld i.H.v. 30.000 €, einen Anspruch auf Ersatz von Verdienstausfall i.H.v. weiteren rd. 74.000 € und auf Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten i.H.v. rd. 2.300 € zu. Außerdem stellte es fest, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, sämtliche zukünftig entstehenden materiellen und nicht vorhersehbaren immateriellen Schäden der Klägerin zu erstatten, die sich aus der Körperverletzung im Zusammenhang mit dem Unfall vom 29.4.2008 ergeben, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder Dritte übergegangen sind oder übergehen werden. Im Übrigen wies das LG die Klage ab. Hiergegen haben sowohl die Klägerin als auch die Beklagten Berufung eingelegt. Das OLG wies die Berufung der Klägerin zurück. Auf die Berufung der Beklagten hin änderte es das Urteil des LG hinsichtlich der Verurteilung zur Erstattung von Verdienstausfall ab und sprach der Klägerin insoweit lediglich einen Betrag von rd. 27.000 € zu. Die Revision zum BGH wurde nicht zugelassen. 

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hob der BGH das Urteil des OLG insoweit auf, als die Klage hinsichtlich der geltend gemachten Ansprüche auf Ersatz von Haushaltsführungs- und Mehrbedarfsschaden sowie Freistellung von der Verpflichtung zur Zahlung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten abgewiesen worden ist, und verwies die Sache insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurück.

Die Gründe:
Das OLG ist unter entscheidungserheblichem Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG zu der Annahme gelangt, der Klägerin stünde kein Anspruch auf Ersatz von Haushaltsführungs- und sonstigem Mehrbedarfsschaden zu. In der Folge war auch die von der Höhe der berechtigten Forderungen der Klägerin abhängige Entscheidung des OLG über den Anspruch auf Freistellung von der Verpflichtung zur Zahlung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten aufzuheben.

Das Gericht darf die Anforderungen an die Substantiierung des Parteivortrags nicht überspannen. Da die Handhabung der Substantiierungsanforderungen dieselben einschneidenden Folgen hat wie die Anwendung von Präklusionsvorschriften, verstößt sie gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie offenkundig unrichtig ist. Bei einer Schadensschätzung nach § 287 ZPO ist vom Tatrichter zu beachten, dass im Rahmen des § 287 ZPO nicht die gleichen Anforderungen an die Substantiierung gestellt werden können wie in anderen Fällen. Denn diese Vorschrift erleichtert dem Geschädigten nicht nur die Beweisführung, sondern auch die Darlegungslast. Auch findet sich im Prozessrecht keine Grundlage, Parteivortrag nur deshalb unberücksichtigt zu lassen, weil er im Widerspruch zu vorangegangenem, ausdrücklich aufgegebenem Vortrag steht. Im Gegenteil ist eine Partei nicht daran gehindert, ihr Vorbringen im Laufe des Rechtsstreits zu ändern, insbesondere zu präzisieren, zu ergänzen oder zu berichtigen; eine Vortragsänderung kann nur bei der Beweiswürdigung Bedeutung erlangen.

Die Tatsache, dass die Klägerin im Prozessverlauf die Höhe des von ihr geltend gemachten Anspruchs modifiziert hat, führt für sich genommen noch nicht zu einer Unschlüssigkeit ihres Vorbringens. Den in der Berufungsbegründung ausdrücklich als korrigiert bezeichneten Anteil der Klägerin an der Haushaltsführung vor dem Unfall mit 2/3 (statt 1/2) hat die Klägerin - worauf die Beschwerde zu Recht hinweist - unter Zeugenbeweis gestellt. Dass das Berufungsgericht dieses Beweisangebot übergangen hat, findet nach den oben dargelegten Grundsätzen im Prozessrecht keine Stütze. Die Klägerin musste insoweit keine "nachvollziehbare Begründung für den geänderten Vortrag" liefern, um das Berufungsgericht zu einer Beweisaufnahme zu veranlassen. Soweit das OLG meint, die ursprüngliche Tabelle in der Klageschrift sei nicht nachzuvollziehen, hat die Klägerin in ihrer Berufungsbegründung hierzu ergänzend ausgeführt. Aus diesen Ausführungen ergibt sich der vom OLG für "unklar" gehaltene Ansatz von 17 von der Klägerin unfallbedingt nicht mehr leistbaren Stunden für die Haushaltsführung (14 Stunden Reinigungsarbeiten, 3 Stunden Einkaufen).

Auch mit den Ausführungen zum geltend gemachten Anspruch auf Ersatz (pflegerischen) Mehrbedarfs hat das OLG den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, indem es entweder die Ausführungen der Klägerin in der Berufungsbegründung nicht zur Kenntnis genommen oder die Anforderungen an den von der Klägerin zu leistenden Vortrag offenkundig überspannt hat. 

Die Klägerin hat unter Verweis auf ihr erstinstanzliches Vorbringen vorgetragen, sie habe in der Vergangenheit Hilfe beim An- und Auskleiden, bei den Toilettengängen sowie der Körperpflege im unteren Körperbereich benötigt und werde diese auch in Zukunft benötigen. Sie müsse ihren Ehemann auch um weitere Hilfestellungen bitten, da sie aufgrund der unfallbedingten Wirbelsäulenverletzungen nichts mehr vom Boden aufheben und auch keine schweren Gegenstände über 5 kg länger halten könne. Zudem sei die Klägerin jedenfalls in der Vergangenheit auf die Begleitung ihres Ehemanns im Hinblick auf ambulante Untersuchungen, Reha-Maßnahmen etc. angewiesen gewesen, da sie jedenfalls bis 2016 nicht selbst Autofahren habe können. Es handele sich um einen täglichen personellen Mehraufwand von 60 Minuten. Zum Beweis dieses Vortrags hat die Klägerin das Zeugnis ihres Ehemanns angeboten. Damit hat die Klägerin ihr Vorbringen nicht auf eine "rein punktuelle Aufzählung verschiedener Bedürfnisse" beschränkt, sondern täglich wiederkehrende pflegerische Bedürfnisse geschildert. Das OLG scheint demgegenüber allein den Vortrag der Klägerin zu notwendigen Fahrtdiensten in der Vergangenheit in den Blick genommen zu haben. Die Klägerin musste hier angesichts der im Rahmen des § 287 ZPO eingeschränkten Darlegungslasten des Geschädigten nicht mehr vortragen, um das OLG zu einem Eintritt in die Beweisaufnahme zu veranlassen.

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