Keine Pflicht zur dauerhaften Duldung eines Überbaus allein aus nachbarlichem Gemeinschaftsverhältnis oder Schikaneverbot
BGH v. 7.11.2025 - V ZR 121/24
Der Sachverhalt:
Die Parteien sind benachbarte Landwirte. Der Beklagte betreibt auf seinen Parzellen eine Außenstelle seines landwirtschaftlichen Betriebs. Er baute zu diesem Zweck im Jahr 2000 einen Rinderstall und verschloss später dessen zunächst offene Ostseite durch ein Schleppdach und ein Windschutznetz. Ferner errichtete er u.a. eine Lagerhalle und verlegte eine unterirdische Stromleitung. Das gesamte Betriebsgelände des Beklagten ist aufgrund einer Auflage des Veterinäramts zur Vermeidung der Wildschweinpest eingezäunt.
Der Kläger erwarb 2015 das Eigentum an einem zwischen den Parzellen des Beklagten liegenden schmalen, etwa 11,56 Ar großen Grundstücksstreifen, der seit jeher von dem Beklagten als Hof- und Wegfläche für seinen Betrieb mitgenutzt worden ist. Die Parzelle des Klägers durchschneidet die Betriebsfläche des Beklagten zwischen den Gebäuden. Der Rinderstall bzw. dessen Dachüberstand befindet sich im Umfang einer Fläche von 117,03 qm auf dem Grundstück des Klägers. Das Dach der Lagerhalle ragt mit einer Fläche von 5,7 qm in das Grundstück des Klägers hinein. Das unterirdisch verlegte Stromkabel verläuft ebenfalls über das Grundstück des Klägers. Im Streit steht, ob die Einfriedung jedenfalls zum Teil auf dem Grundstück des Klägers errichtet wurde.
Der Kläger begehrt von dem Beklagten - soweit noch von Interesse - die Beseitigung der überbauten Gebäudeteile, der in seinem Grundstück verlegten Stromleitung und der Einfriedung, soweit sie auf seinem Grundstück errichtet ist, sowie die Erstattung anteiliger vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten nebst Zinsen.
LG und OLG wiesen die Klage ab. Auf die Revision des Klägers hob der BGH das Urteil des OLG auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück.
Die Gründe:
Die Erwägungen des OLG, mit denen es den Kläger für verpflichtet hält, die von dem Beklagten über die Grenze gebauten Gebäude- und Anlagenteile nach § 1004 Abs. 2 BGB zu dulden, halten rechtlicher Prüfung nicht stand.
Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB sind infolge der Überbauten erfüllt. Rechtsfehlerhaft ist jedoch die Annahme des OLG, eine auf die Gebäude bezogene Duldungspflicht nach § 1004 Abs. 2 BGB ergebe sich aus dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis. Auf die Rechte und Pflichten von Grundstücksnachbarn ist der allgemeine Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) anzuwenden; daraus folgt für die Nachbarn eine Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme, deren Auswirkungen auf den konkreten Fall unter dem Begriff des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses zusammengefasst werden. Dies wirkt sich aber hauptsächlich als bloße Schranke der Rechtsausübung aus. Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass das Rechtsinstitut nicht dazu dienen darf, die nachbarrechtlichen Regelungen in ihr Gegenteil zu verkehren. Danach kann im Hinblick auf die überbauten Gebäude keine Duldungspflicht des Klägers bejaht werden. Ein Überbau muss nur unter den Voraussetzungen des § 912 Abs. 1 BGB geduldet werden; liegen diese nicht vor, kann eine Pflicht zur dauerhaften Duldung des Überbaus nicht aus dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis hergeleitet werden.
Inwieweit ein Grundstückseigentümer einen Überbau dauerhaft zu dulden hat, ist in § 912 Abs. 1 BGB eingehend geregelt. Danach hat der Nachbar einen Überbau nur dann zu dulden, wenn der Eigentümer eines Nachbargrundstücks bei der Errichtung eines Gebäudes über die Grenze gebaut hat, ohne dass ihm Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit zur Last fällt, es sei denn, dass der Nachbar vor oder sofort nach der Grenzüberschreitung Widerspruch erhoben hat. Diese Vorschrift enthält im Hinblick auf die nicht durch dingliche Rechte oder schuldrechtliche Verträge begründete Pflicht zur dauerhaften Duldung von Überbauten eine abschließende Regelung und schließt insoweit die Annahme einer solchen aus anderen Rechtsgründen aus. Sind die tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm nicht erfüllt, können sie insbesondere nicht dadurch umgangen oder erweitert werden, dass über § 912 Abs. 1 BGB hinaus aus dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis eine dauerhafte Duldungspflicht des Grundstückeigentümers abgeleitet wird, weil sonst die nachbarrechtlichen Regelungen in ihr Gegenteil verkehrt würden.
Anders als das OLG meint, kommt es insoweit auch nicht auf eine Abwägung der gegenseitigen Interessen an. Zwar kann der Gedanke von Treu und Glauben im Rahmen des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses in eng begrenzten Ausnahmefällen sogar zu positivem Handeln oder Unterlassen verpflichten, wenn ein über die gesetzliche Regelung hinausgehender billiger Ausgleich der widerstreitenden Interessen zwingend geboten erscheint. Aber abschließende gesetzliche Regelungen wie diejenige über die Duldung eines Überbaus in § 912 BGB können durch vermeintlich zwingende Gründe auf Seiten des Überbauenden nicht umgangen oder erweitert werden. Es verhält sich nicht anders als bei einem Notwegrecht, dessen Voraussetzungen in § 917 BGB abschließend geregelt werden.
Eine Pflicht des Klägers zur Duldung der Eigentumsbeeinträchtigungen kann sich i.Ü. entgegen der von dem Prozessbevollmächtigten des Beklagten geäußerten Ansicht insbesondere nicht aus dem Schikaneverbot des § 226 BGB ergeben. Wie bereits ausgeführt, ist ein Überbau dauerhaft allein unter den Voraussetzungen des § 912 Abs. 1 BGB zu dulden; liegen diese nicht vor, kann eine Pflicht zur dauerhaften Duldung des Überbaus auch nicht aus dem Schikaneverbot hergeleitet werden.
Mehr zum Thema:
Kommentierung | BGB
§ 226 Schikaneverbot
Wagner in Erman, BGB, 17. Aufl. 2023
09/2023
Kommentierung | BGB
§ 242 Leistung nach Treu und Glauben
Böttcher in Erman, BGB, 17. Aufl. 2023
09/2023
Kommentierung | BGB
§ 912 Überbau; Duldungspflicht
Elzer in Erman, BGB, 17. Aufl. 2023
09/2023
Kommentierung | BGB
§ 1004 Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch
Ebbing in Erman, BGB, 17. Aufl. 2023
09/2023
Beratermodul Zivilrecht und Zivilverfahrensrecht
Otto Schmidt Answers ist in diesem Modul mit 5 Prompts am Tag enthalten! Nutzen Sie die Inhalte in diesem Modul direkt mit der KI von Otto Schmidt. Zusätzlich mit der GVRZ - Zeitschrift für das gesamte Verfahrensrecht! 4 Wochen gratis nutzen!
BGH online
Die Parteien sind benachbarte Landwirte. Der Beklagte betreibt auf seinen Parzellen eine Außenstelle seines landwirtschaftlichen Betriebs. Er baute zu diesem Zweck im Jahr 2000 einen Rinderstall und verschloss später dessen zunächst offene Ostseite durch ein Schleppdach und ein Windschutznetz. Ferner errichtete er u.a. eine Lagerhalle und verlegte eine unterirdische Stromleitung. Das gesamte Betriebsgelände des Beklagten ist aufgrund einer Auflage des Veterinäramts zur Vermeidung der Wildschweinpest eingezäunt.
Der Kläger erwarb 2015 das Eigentum an einem zwischen den Parzellen des Beklagten liegenden schmalen, etwa 11,56 Ar großen Grundstücksstreifen, der seit jeher von dem Beklagten als Hof- und Wegfläche für seinen Betrieb mitgenutzt worden ist. Die Parzelle des Klägers durchschneidet die Betriebsfläche des Beklagten zwischen den Gebäuden. Der Rinderstall bzw. dessen Dachüberstand befindet sich im Umfang einer Fläche von 117,03 qm auf dem Grundstück des Klägers. Das Dach der Lagerhalle ragt mit einer Fläche von 5,7 qm in das Grundstück des Klägers hinein. Das unterirdisch verlegte Stromkabel verläuft ebenfalls über das Grundstück des Klägers. Im Streit steht, ob die Einfriedung jedenfalls zum Teil auf dem Grundstück des Klägers errichtet wurde.
Der Kläger begehrt von dem Beklagten - soweit noch von Interesse - die Beseitigung der überbauten Gebäudeteile, der in seinem Grundstück verlegten Stromleitung und der Einfriedung, soweit sie auf seinem Grundstück errichtet ist, sowie die Erstattung anteiliger vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten nebst Zinsen.
LG und OLG wiesen die Klage ab. Auf die Revision des Klägers hob der BGH das Urteil des OLG auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück.
Die Gründe:
Die Erwägungen des OLG, mit denen es den Kläger für verpflichtet hält, die von dem Beklagten über die Grenze gebauten Gebäude- und Anlagenteile nach § 1004 Abs. 2 BGB zu dulden, halten rechtlicher Prüfung nicht stand.
Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB sind infolge der Überbauten erfüllt. Rechtsfehlerhaft ist jedoch die Annahme des OLG, eine auf die Gebäude bezogene Duldungspflicht nach § 1004 Abs. 2 BGB ergebe sich aus dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis. Auf die Rechte und Pflichten von Grundstücksnachbarn ist der allgemeine Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) anzuwenden; daraus folgt für die Nachbarn eine Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme, deren Auswirkungen auf den konkreten Fall unter dem Begriff des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses zusammengefasst werden. Dies wirkt sich aber hauptsächlich als bloße Schranke der Rechtsausübung aus. Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass das Rechtsinstitut nicht dazu dienen darf, die nachbarrechtlichen Regelungen in ihr Gegenteil zu verkehren. Danach kann im Hinblick auf die überbauten Gebäude keine Duldungspflicht des Klägers bejaht werden. Ein Überbau muss nur unter den Voraussetzungen des § 912 Abs. 1 BGB geduldet werden; liegen diese nicht vor, kann eine Pflicht zur dauerhaften Duldung des Überbaus nicht aus dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis hergeleitet werden.
Inwieweit ein Grundstückseigentümer einen Überbau dauerhaft zu dulden hat, ist in § 912 Abs. 1 BGB eingehend geregelt. Danach hat der Nachbar einen Überbau nur dann zu dulden, wenn der Eigentümer eines Nachbargrundstücks bei der Errichtung eines Gebäudes über die Grenze gebaut hat, ohne dass ihm Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit zur Last fällt, es sei denn, dass der Nachbar vor oder sofort nach der Grenzüberschreitung Widerspruch erhoben hat. Diese Vorschrift enthält im Hinblick auf die nicht durch dingliche Rechte oder schuldrechtliche Verträge begründete Pflicht zur dauerhaften Duldung von Überbauten eine abschließende Regelung und schließt insoweit die Annahme einer solchen aus anderen Rechtsgründen aus. Sind die tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm nicht erfüllt, können sie insbesondere nicht dadurch umgangen oder erweitert werden, dass über § 912 Abs. 1 BGB hinaus aus dem nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis eine dauerhafte Duldungspflicht des Grundstückeigentümers abgeleitet wird, weil sonst die nachbarrechtlichen Regelungen in ihr Gegenteil verkehrt würden.
Anders als das OLG meint, kommt es insoweit auch nicht auf eine Abwägung der gegenseitigen Interessen an. Zwar kann der Gedanke von Treu und Glauben im Rahmen des nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnisses in eng begrenzten Ausnahmefällen sogar zu positivem Handeln oder Unterlassen verpflichten, wenn ein über die gesetzliche Regelung hinausgehender billiger Ausgleich der widerstreitenden Interessen zwingend geboten erscheint. Aber abschließende gesetzliche Regelungen wie diejenige über die Duldung eines Überbaus in § 912 BGB können durch vermeintlich zwingende Gründe auf Seiten des Überbauenden nicht umgangen oder erweitert werden. Es verhält sich nicht anders als bei einem Notwegrecht, dessen Voraussetzungen in § 917 BGB abschließend geregelt werden.
Eine Pflicht des Klägers zur Duldung der Eigentumsbeeinträchtigungen kann sich i.Ü. entgegen der von dem Prozessbevollmächtigten des Beklagten geäußerten Ansicht insbesondere nicht aus dem Schikaneverbot des § 226 BGB ergeben. Wie bereits ausgeführt, ist ein Überbau dauerhaft allein unter den Voraussetzungen des § 912 Abs. 1 BGB zu dulden; liegen diese nicht vor, kann eine Pflicht zur dauerhaften Duldung des Überbaus auch nicht aus dem Schikaneverbot hergeleitet werden.
Kommentierung | BGB
§ 226 Schikaneverbot
Wagner in Erman, BGB, 17. Aufl. 2023
09/2023
Kommentierung | BGB
§ 242 Leistung nach Treu und Glauben
Böttcher in Erman, BGB, 17. Aufl. 2023
09/2023
Kommentierung | BGB
§ 912 Überbau; Duldungspflicht
Elzer in Erman, BGB, 17. Aufl. 2023
09/2023
Kommentierung | BGB
§ 1004 Beseitigungs- und Unterlassungsanspruch
Ebbing in Erman, BGB, 17. Aufl. 2023
09/2023
Beratermodul Zivilrecht und Zivilverfahrensrecht
Otto Schmidt Answers ist in diesem Modul mit 5 Prompts am Tag enthalten! Nutzen Sie die Inhalte in diesem Modul direkt mit der KI von Otto Schmidt. Zusätzlich mit der GVRZ - Zeitschrift für das gesamte Verfahrensrecht! 4 Wochen gratis nutzen!