04.03.2021

Krebstod einer 70-jährigen Patientin: 50.000 € Schmerzensgeld nach Befunderhebungsfehler

Verstirbt eine 70-jährige Patientin an einer zu spät erkannten Krebserkrankung, sind für die Bemessung des Schmerzensgeldes in besonderem Maße einerseits ihr Leidensweg, insbesondere die Heftigkeit und Dauer der Schmerzen, maßgeblich und andererseits ihr Alter und ihre familiäre Situation, die Rückschlüsse auf die erlittenen Lebensbeeinträchtigungen zulassen. Ein Schmerzensgeld i.H.v. 50.000 € kann insoweit angemessen sein.

OLG Frankfurt a.M. v. 22.12.2020 - 8 U 142/18
Der Sachverhalt:
Der Kläger macht für seine verstorbene Ehefrau Schmerzensgeld gegen den behandelnden Arzt geltend. Die Patientin war im Herbst 2010 wegen undefinierbarer Schmerzen in einem bereits geschwollenen rechten Oberschenkel in die orthopädische Fachpraxis des Beklagten überwiesen worden. Dort wurden im Oktober lediglich ein Hämatom diagnostiziert und Schmerzmittel verordnet.

Ende November veranlasste der Beklagte dann eine MRT-Untersuchung. Dabei wurde ein Tumor diagnostiziert, der im Dezember reseziert wurde. Nachdem bereits im Februar 2011 eine Metastase gefunden worden war, konnte der Krebs nicht mehr eingedämmt werden. Die Patientin verstarb im August 2012.

Das LG gab der Klage teilweise statt und sprach ein Schmerzensgeld i.H.v. 30.000 € zu. Auf die Berufung des Klägers verurteilte das OLG den Beklagten zur Zahlung eines Schmerzensgeldes i.H.v. 50.000 €. Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig. Gegen die Entscheidung wurde Nichtzulassungsbeschwerde beim BGH eingelegt.

Die Gründe:
Der Beklagte haftet für die durch sein Fehlverhalten entstandenen Schäden, da er die Erhebung medizinisch gebotener Befunde unterlassen hat. Der Tumor hätte nach Angaben des Sachverständigen bereits Ende Oktober erkannt werden können. Bei einer um einen Monat früheren Diagnose wäre die statistische Prognose der Patientin um 10 bis 20 % besser gewesen.

Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes sind einerseits der Leidensweg der Patientin bis zu ihrem Tod, aus dem sich insbesondere die Heftigkeit und Dauer ihrer Schmerzen ablesen lässt, und andererseits ihr Alter und ihre familiäre Situation, die Rückschlüsse auf die erlittene Lebensbeeinträchtigung zulassen, zu berücksichtigen. Schwerpunkt der Schmerzensgeldbewertung sowohl hinsichtlich der körperlichen als auch psychischen Lebensbeeinträchtigungen ist der Zeitraum ab Bekanntwerden der ersten Metastase. Ab diesem Zeitpunkt ist das dem Beklagten nicht zurechenbare Grundleiden mit den damit verbundenen Beschwerden und Einschränkungen immer weiter in den Hintergrund getreten. Die Patientin sah ihre Chancen auf eine Genesung zunehmend schwinden und musste sich auf den immer konkreter bevorstehenden Tod einstellen.

Die klägerische Darstellung ihres letzten Lebensabschnittes mit schrecklichen Schmerzen, Verzweiflung und Todesangst sei unmittelbar nachvollziehbar und entspricht den allgemein bekannten furchtbaren Erlebnissen von Menschen mit einer Krebserkrankung im Endstadium. Grundlage der Bemessung ist damit hier, dass sich eine 70 Jahre alte verheiratete Frau mit zwei Kindern und zwei Enkelkindern wegen Metastasen zunehmend Sorgen um ihr Leben machen und diversen körperlich und psychisch belastenden medizinischen Eingriffen unterziehen musste. Ab Anfang 2012 wurde ihr Kampf ums Überleben immer verzweifelter, die letzten ihr verbleibenden acht Monate waren leidensgeprägt und mit entsetzlichen Schmerzen verbunden.

Für einen solchen Leidensweg ist ein Schmerzensgeld i.H.v. 50.000 € angemessen. Dabei sind folgende Aspekte zu berücksichtigen: Die Leidensdauer von rd. anderthalb Jahren ist im Vergleich zu anderen Fällen eher gering. Auch die erlittene Lebensbeeinträchtigung ist bei einer 70 Jahre alten Personen typischerweise unterdurchschnittlich, da man in diesem Alter die zentralen erfüllenden Momente des Lebens noch erleben konnte. Die Patientin hätte voraussichtlich ohne den Fehler zwar noch eine ganze Reihe von Jahren leben können. Ihr Leben sei aber erst zu einem Zeitpunkt beeinträchtigt worden, zu dem sie persönlich allein schon wegen ihrer Grunderkrankung erhebliche Einschränkungen im Sport- und Freizeitbereich hätte hinnehmen müssen und zu dem sich statistisch alsbald weitere altersbedingte gesundheitliche Probleme hinzugesellt hätten. Sie musste zudem keine schutzbedürftigen Angehörigen zurücklassen. 

Hinsichtlich der Grunderkrankung selbst hat der Beklagte allenfalls eine nicht näherungsweise bestimmbare Verschlechterung zu vertreten, so dass die damit verbundenen Schmerzen ihm nur sehr eingeschränkt zugerechnet werden können. Die Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldes spielt vorliegend keine Rolle, auch das Grad des Verschuldens des Beklagten sowie die wirtschaftlichen Verhältnisse der Parteien sind von untergeordneter Bedeutung.
OLG Frankfurt a.M. PM Nr. 13 vom 2.3.2021
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