16.06.2023

Mutwilligkeit eines zusätzlichen einstweiligen Anordnungsverfahrens

Die internationale Zuständigkeit in der Hauptsache nach Art. 8 Brüssel IIa-VO umfasst auch einstweilige Maßnahmen in diesem Zusammenhang. Dies gilt auch dann, wenn Hauptsache und einstweilige Maßnahmen nach nationalem Recht nicht im selben Verfahren, sondern in gesonderten Verfahren geltend zu machen sind. Bei einem rechtmäßigen plötzlichen Umzug des betreuenden Elternteils kann für den Antrag auf vorläufigen Obhutswechsel des anderen Elternteils Mutwilligkeit nach § 76 Abs. 1 FamFG mit § 114 ZPO auch dann nicht angenommen werden, wenn bereits ein Hauptsacheverfahren läuft.

OLG Karlsruhe v. 26.5.2023 - 5 WF 5/23
Der Sachverhalt:
Antragsteller und Antragsgegnerin sind die Eltern der beiden Kinder K., geb. 2008 und M., geb. 2011. Die Familie lebte auch nach Trennung der Eltern zunächst in der gleichen Gegend. Die Scheidung der Eltern erfolgte am 6.9.2021 in Serbien. Dabei wurde das Sorgerecht für beide Kinder mit Zustimmung des Vaters auf die Mutter übertragen.

Am 28.4.2022 beantragte der Vater beim AG Überlingen die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf sich. Das Familiengericht bestellte einen Verfahrensbeistand, eine persönliche Anhörung der Beteiligten erfolgte zunächst nicht. Nachdem der Vater mit den beiden Kindern im September 2022 aus dem Sommerferienurlaub zurückgekehrt war, erfuhr er, dass die Mutter mittlerweile den Umzug von ihr und den Kindern zu ihrem neuen Lebensgefährten nach Österreich vollzogen hatte. Infolgedessen beantragte er Ende September 2022 im Rahmen einer einstweiligen Anordnung die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf sich und die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe.

Das Familiengericht wies zunächst auf Probleme mit der internationalen Zuständigkeit hin, übersandte schließlich erst am 11.11.2022 den Antrag an die Mutter. Diese rügte umgehend die internationale Zuständigkeit. Zudem fehle die Eilbedürftigkeit, da im Hauptsacheverfahren nunmehr Termin auf den 23.11.2022 bestimmt sei. Außerdem seien mittlerweile nach mehreren Monaten die Kinder in Österreich integriert.

Das Familiengericht hat die Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe abgelehnt, da die beabsichtigte Rechtsverfolgung jedenfalls mutwillig sei. Auf die sofortige Beschwerde des Antragstellers hat das OLG den Beschluss aufgehoben und die Sache an das Familiengericht zurückverwiesen.

Die Gründe:
Die Verfahrenskostenhilfe durfte nicht wegen fehlender Erfolgsaussicht gem. § 76 Abs. 1 FamFG mit § 114 ZPO verweigert werden. Zwar ist für die Beurteilung der Erfolgsaussichten grundsätzlich der letzte Sach- und Streitstand heranzuziehen (vgl. Zöller/Schultzky, a.a.O., § 127 Rn. 15). Allerdings gilt dies nicht, wenn das Gericht trotz Entscheidungsreife nicht unverzüglich entschieden hat. Wenn sich hier die Erfolgsprognose zwischen Entscheidungsreife und Entscheidung verschlechtert hat, ist dies zu berücksichtigen. Abzustellen ist dann auf die Erfolgsaussichten bei Entscheidungsreife; das gilt auch für die Beurteilung im Beschwerdeverfahren.

Hier lag eine solche Verzögerung vor. Entscheidungsreife liegt zwar nicht bereits bei Eingang des Antrags vor, sondern erfordert eine angemessene Anhörung der anderen Beteiligten. Diese hätte für den Ende September 2022 eingegangenen Antrag in einem einstweiligen Anordnungsverfahren aber spätestens bis Mitte Oktober 2022 erfolgen können. Zu diesem Zeitpunkt konnte eine Erfolgsaussicht des Antrags des Vaters nach dem im Verfahren der Verfahrenskostenhilfe anzulegenden großzügigen Maßstab nicht verneint werden.

Das Familiengericht war schließlich zutreffend von der internationalen Zuständigkeit für diesen Antrag ausgegangen. Die internationale Zuständigkeit in der Hauptsache nach Art. 8 Brüssel IIa-VO umfasst auch einstweilige Maßnahmen in diesem Zusammenhang. Dies gilt auch dann, wenn Hauptsache und einstweilige Maßnahmen nach nationalem Recht nicht im selben Verfahren, sondern in gesonderten Verfahren geltend zu machen sind.

Der Antrag des Vaters war auch nicht mutwillig, insbesondere ist nicht ersichtlich, dass sich der Vater auf die Durchführung des Hauptsacheverfahrens verweisen lassen musste. Zwar führte das Familiengericht insoweit zutreffend aus, dass durchaus zweifelhaft erschien, ob in der vorliegenden Konstellation eines wohl rechtmäßigen, wenn auch offenbar heimlichen Umzugs des betreuenden Elternteils mit den gemeinsamen Kindern der Erlass einer einstweiligen Anordnung ohne vorherige persönliche Anhörung der Beteiligten in Betracht kam, insbesondere wenn zu diesem Zeitpunkt schon seit sechs Monaten ein Hauptsacheverfahren lief. Wie auch der vorliegende Fall zeigt, kann in solchen Konstellationen die Integration am neuen Wohnort aber innerhalb weniger Wochen oder Monate eintreten, die dann jedenfalls im Hinblick auf die im einstweiligen Verfahren vorzunehmende Folgenabwägung gegen einen vorläufigen Obhutswechsel (wenn auch an den alten Wohnort der Kinder) sprechen würde.

Mehr zum Thema:

Kommentierung | ZPO:
§ 127 - Entscheidungen
Schultzky in Zöller, Zivilprozessordnung, 34. Aufl. 2022

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