11.10.2021

Örtlich unzuständiges Jugendamt als Amtsvormund für einen unbegleiteten ausländischen Minderjährigen?

Die Bestellung eines nach § 88 a SGB VIII örtlich unzuständigen Jugendamts als Amtsvormund für einen unbegleiteten ausländischen Minderjährigen ist nicht zulässig.

BGH v. 15.9.2021 - XII ZB 231/21
Der Sachverhalt:
Gegenstand des Verfahrens ist die Frage, welches Jugendamt zum Amts-vormund der beiden als unbegleitete ausländische Minderjährige nach Deutschland eingereisten Betroffenen zu bestellen ist. Der im August 2013 geborene Betroffene zu 1) und sein am 22.9.2003 geborener Onkel, der Betroffene zu 2), sind afghanische Staatsangehörige. Sie wurden am 20.9.2020 im Landkreis Rosenheim aufgegriffen, vom Kreisjugendamt Rosenheim (Beteiligter zu 2) vorläufig in Obhut genommen und von der Durchführung des Verteilungsverfahrens nach § 42 b SGB VIII ausgeschlossen, weil sich Verwandte in Deutschland befinden und eine Familienzusammenführung angebahnt werden soll. Mit Beschlüssen vom 12.10.2020 ordnete das AG für beide Betroffenen Vormundschaft an und wählte den Beteiligten zu 2) als Vormund aus.

Dieser teilte dem AG mit Schreiben vom 26.10.2020 mit, dass die beiden Betroffenen vom 22. bis zum 24.9.2020 abgängig gewesen seien und seit dem 24.9.2020 in einer Einrichtung im Landkreis Freising wohnten, und bat darum, einen Vormund im dortigen Landkreis zu bestellen. Daraufhin entließ das AG den Beteiligten zu 2) als Vormund und bestimmte das Amt für Jugend und Familie in Freising (Beteiligter zu 1) für beide Betroffenen zum Vormund. Die hiergegen vom Beteiligten zu 1) eingelegten Beschwerden wies das OLG zurück.

Auf die Rechtsbeschwerde des weiteren Beteiligten zu 1) hob der BGH den Beschluss des OLG auf und verwies die Sache zur erneuten Behandlung und Entscheidung dorthin zurück.

Die Gründe:
Die Bestellung eines nach § 88 a SGB VIII örtlich unzuständigen Jugendamts als Amtsvormund für einen unbegleiteten ausländischen Minderjährigen ist nicht zulässig.

Mit dem zum 1.11.2015 eingeführten § 88 a SGB VIII ist die örtliche Zuständigkeit für vorläufige Maßnahmen, Leistungen und die Amtsvormundschaft für unbegleitete ausländische Kinder und Jugendliche geregelt. Nach § 88 a Abs. 1 SGB VIII ist für die vorläufige Inobhutnahme i.S.d. § 42 a SGB VIII der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich sich das Kind oder der Jugendliche vor Beginn der Maßnahme tatsächlich aufhält, soweit Landesrecht nichts anderes regelt. § 88 a Abs. 2 SGB VIII bestimmt, dass sich die örtliche Zuständigkeit für die Inobhutnahme (§ 42 SGB VIII) nach der Zuweisungsentscheidung gem. § 42 b Abs. 3 Satz 1 SGB VIII richtet; ist die Verteilung des Minderjährigen jedoch nach § 42 b Abs. 4 SGB VIII ausgeschlossen, so bleibt die nach Absatz 1 begründete Zuständigkeit bestehen.

Ein anderer Träger kann aus Gründen des Kindeswohls oder aus sonstigen humanitären Gründen von vergleichbarem Gewicht die örtliche Zuständigkeit von dem zuständigen Träger übernehmen. Gem. § 88 a Abs. 3 SGB VIII ist für Leistungen der örtliche Träger zuständig, in dessen Bereich sich der Minderjährige vor Beginn der Leistung tatsächlich aufhält. Geht der Leistungsgewährung eine Inobhutnahme voraus, so bleibt die nach Absatz 2 begründete Zuständigkeit bestehen, soweit Landesrecht nichts anderes regelt. § 88 a Abs. 4 SGB VIII legt schließlich fest, dass sich die örtliche Zuständigkeit für die Vormundschaft oder Pflegschaft, die für unbegleitete ausländische Kinder oder Jugendliche durch Bestellung des Familiengerichts eintritt, während der vorläufigen Inobhutnahme nach § 88 a Abs. 1 SGB VIII, der Inobhutnahme nach dessen Absatz 2 und der Leistungsgewährung nach dessen Absatz 3 richtet.

Inwieweit diese sozialrechtliche Zuständigkeitsbestimmung Bindungswirkung für die familiengerichtliche Bestellung eines Jugendamts als Amtsvormund im Rahmen der §§ 1779, 1791 b, 1887, 1889 Abs. 2 BGB entfaltet, ist umstritten. Nach einer Auffassung ist das Familiengericht bei seiner Auswahlentscheidung nicht durch § 88 a SGB VIII gebunden. Vereinzelt findet sich auch die Ansicht, es handele sich zwar um eine gebundene Entscheidung, bei der das Kindeswohl jedoch im Wege einer Ermessensreduzierung auf Null gebieten könne, von der in § 88 a SGB VIII vorgesehenen Zuständigkeitsverteilung abzuweichen. Andere meinen, jedenfalls bei einem Wechsel des gewöhnlichen Aufenthaltsorts des Minderjährigen folge aus §§ 1887, 1889 Abs. 2 BGB die Möglichkeit, anstelle des ursprünglich örtlich zuständigen Jugendamts ein anderes Jugendamt zum Amtsvormund zu bestimmen und sich dabei an Kindeswohlgesichtspunkten zu orientieren. Schließlich wird vor allem unter Verweis auf den Wortlaut des § 88 a SGB VIII sowie die Regelung des § 56 Abs. 1 SGB VIII und die gesetzgeberischen Ziele vertreten, für ein Auswahlermessen des Familiengerichts sei insoweit kein Raum. Zu bestellen sei vielmehr das Jugendamt, dessen Zuständigkeit sich aus § 88 a SGB VIII ergebe. Die zuletzt genannte Auffassung ist zutreffend.

Allerdings ist im Grundsatz richtig, dass dem Familiengericht im Rahmen von § 1779 BGB ein Auswahlermessen zukommt. Fehlt es an einem von den Eltern nach § 1776 BGB als Vormund Benannten oder wird dieser gem. § 1778 BGB übergangen und liegt auch kein Fall einer gesetzlichen Amtsvormundschaft des Jugendamts nach § 1791 c BGB vor, so hat das Familiengericht gem. § 1779 Abs. 1 BGB den Vormund nach Anhörung des Jugendamts auszuwählen, wobei es im Rahmen seiner Ermessensentscheidung bestimmte, von § 1779 Abs. 2 BGB vorgegebene Kriterien betreffend die Eignung des Vormunds und die Auswahl unter mehreren geeigneten Personen zu berücksichtigen hat. Ist eine als ehrenamtlicher Einzelvormund geeignete Person nicht vorhanden, so kann ein Berufsvormund (§ 1836 Abs. 1 Satz 2 BGB), nach § 1791 a BGB ein Vereinsvormund oder gem. § 1791 b BGB das Jugendamt als Amtsvormund bestellt werden. Führt die Ausübung dieses Auswahlermessens jedoch zu dem Ergebnis, dass es der Bestellung des Jugendamts als Amtsvormund für einen unbegleiteten ausländischen Minderjährigen bedarf, dann ist das nach § 88 a Abs. 4, Abs. 1 bis 3 SGB VIII zuständige Jugendamt zu bestellen. Das Familiengericht hat kein Auswahlermessen, welches Jugendamt es zum Vormund bestimmt. Das entspricht u.a. auch dem Wortlaut des § 88 a SGB VIII, dem zum Ausdruck gekommenen Willen des Gesetzgebers und dem Leitgedanken des Kindeswohls.

Mithin war das Familiengericht vorliegend nicht befugt, den Beteiligten zu 1) zum Amtsvormund zu bestellen. Denn gem. § 88 a SGB VIII ist der Beteiligte zu 2) für die Führung der Amtsvormundschaft zuständig, weil sich die beiden Betroffenen bei der vorläufigen Inobhutnahme in dessen Bereich aufgehalten haben (§ 88 a Abs. 1 SGB VIII) und diese Zuständigkeit wegen des Ausschlusses von der Verteilung nach § 42 b Abs. 4 SGB VIII bestehen geblieben ist (§ 88 a Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 SGB VIII). Eine Übernahme der örtlichen Zuständigkeit nach § 88 a Abs. 2 Satz 3 SGB VIII durch den Beteiligten zu 1) ist nicht festgestellt.
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