24.09.2025

Partei darf auf zeitnahe Kenntnisnahme ihrer Schriftsätze und Rüge etwaiger offensichtlicher äußerer formaler Mängel durch das Gericht vertrauen

Ein elektronisches Dokument, das aus einem besonderen elektronischen Anwaltspostfach versandt wird und nicht mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen ist, ist nur dann auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht, wenn die das Dokument signierende und damit verantwortende Person mit der des tatsächlichen Versenders übereinstimmt (Anschluss an u.a. BGH v. 7.5.2024 - VI ZB 22/23, MDR 2024, 927). Eine Partei darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass ihre Schriftsätze alsbald nach ihrem Eingang bei Gericht zur Kenntnis genommen werden und offensichtliche äußere formale Mängel dabei nicht unentdeckt bleiben. Unterbleibt ein gebotener Hinweis des Gerichts, ist der Partei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er bei ordnungsgemäßem Geschäftsgang so rechtzeitig hätte erfolgen müssen, dass es der Partei noch möglich gewesen wäre, die Frist zu wahren.

BGH v. 20.8.2025 - VII ZB 16/24
Der Sachverhalt:
Der Kläger ist ehemaliger Handelsvertreter der Beklagten. Er machte erstinstanzlich im Wege der Stufenklage zunächst die Erteilung eines Buchauszugs, erforderlichenfalls die Versicherung der Richtigkeit und Vollständigkeit an Eides Statt, ergänzende Abrechnung von Provisionen nach Erteilung des Buchauszugs, Zahlung restlicher Provision sowie eines Handelsvertreterausgleichs geltend. Im Lauf des Verfahrens wurde der ursprüngliche Antrag auf Erteilung eines Buchauszugs übereinstimmend für erledigt erklärt und der auf Versicherung der Richtigkeit und Vollständigkeit an Eides Statt gerichtete Antrag zurückgenommen.

Das LG wies mit Urteil vom 15.12.2023 die auf ergänzende Abrechnung sowie auf Zahlung weiterer Provision und eines Handelsvertreterausgleichs gerichtete Klage ab. Das Urteil wurde dem Kläger zu Händen seiner Prozessbevollmächtigten am 18.12.2023 zugestellt. Mit Schriftsatz vom 18.12.2023, eingegangen bei Gericht am 19.12.2023, legte der Kläger gegen dieses Urteil Berufung ein. Das Schreiben wurde durch Rechtsanwalt M., der der den Kläger vertretenden Rechtsanwaltskanzlei angehört, einfach signiert und durch das beA von Rechtsanwalt R., der ebenfalls der den Kläger vertretenden Rechtsanwaltskanzlei angehört, an das OLG übersandt. Die Geschäftsstelle des OLG teilte Rechtsanwalt M. am 20.12.2023 unter Benennung des Aktenzeichens mit, dass die Berufung vom 18.12.2023 am 19.12.2023 beim OLG eingegangen ist. Auf Antrag von Rechtsanwalt R. mit Schriftsatz vom 13.2.2024 wurde die Berufungsbegründungsfrist durch Verfügung des stellvertretenden Vorsitzenden vom selben Tag antragsgemäß bis zum 15.3.2024 verlängert. Die Berufungsbegründung, mit der lediglich der Anspruch auf Handelsvertreterausgleich i.H.v. rd. 600.000 € weiterverfolgt wurde, wurde von Rechtsanwalt M. einfach signiert und am 15.3.2024 von seinem elektronischen Anwaltspostfach an das OLG übersandt.

Nachdem die Beklagte mit Schriftsatz vom 19.4.2024, dem Klägervertreter am 23.4.2024 zugegangen, gerügt hatte, dass die Frist zur Einlegung der Berufung durch den Schriftsatz der Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 18.12.2023 nicht gewahrt worden sei, legte der Kläger mit Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 25.4.2024 erneut Berufung ein und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Berufungsfrist. Das OLG wies den Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurück und verwarf die Berufung als unzulässig. Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers hob der BGH den Beschluss des OLG auf, gewährte dem Kläger auf seine Kosten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Berufungsfrist und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an das OLG zurück.

Die Gründe:
Der Kläger hat zwar die Berufungsfrist versäumt. Ihm ist jedoch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Die Berufungsfrist ist durch die Berufungsschrift vom 18.12.2023, eingegangen beim OLG am 19.12.2023, nicht gewahrt worden, weil sie nicht in der nach § 130a Abs. 3 Satz 1 ZPO vorgeschriebenen Form eingereicht worden ist. Die Berufungsfrist, die gem. § 517 ZPO einen Monat beträgt und mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils zu laufen beginnt, hat mit der Zustellung des landgerichtlichen Urteils an den Kläger zu Händen seiner Prozessbevollmächtigten am 18.12.2023 zu laufen begonnen. Die elektronisch übermittelte Berufungsschrift des Klägers vom 18.12.2023 hat die Frist des § 517 ZPO nicht gewahrt, weil die Berufung nicht entsprechend den Anforderungen des § 130a Abs. 3 ZPO ordnungsgemäß eingelegt worden ist. 

Ein elektronisches Dokument, das aus einem beA versandt wird und nicht mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen ist, ist nur dann auf einem sicheren Übermittlungsweg eingereicht, wenn die das Dokument signierende und damit verantwortende Person mit der des tatsächlichen Versenders übereinstimmt. Diesen Anforderungen genügt der Schriftsatz vom 18.12.2023, mit dem die Berufung eingelegt werden sollte, nicht. Der Schriftsatz vom 18.12.2023 ist nicht qualifiziert elektronisch signiert worden. Den Formanforderungen ist nicht dadurch genügt worden, dass die Berufungsschrift von dem den Kläger vertretenden Rechtsanwalt M. einfach signiert worden und durch Rechtsanwalt R., der ebenfalls Mitglied der den Kläger vertretenden Rechtsanwaltskanzlei ist, per beA an das OLG übermittelt worden ist. Denn die Person, die hier durch die einfache Signatur die Verantwortung für das Dokument übernommen hat, ist mit dem Versender des elektronischen Dokuments nicht identisch.

Dem Kläger ist jedoch gem. § 233 Satz 1 ZPO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in die versäumte Berufungsfrist zu gewähren, weil er ohne sein Verschulden verhindert war, die Notfrist des § 517 ZPO von einem Monat einzuhalten. Die Wiedereinsetzung ist unabhängig von einem Verschulden der Partei gem. Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG zu gewähren, wenn sie geboten ist, weil das Gericht seine prozessuale Fürsorgepflicht verletzt hat. Eine Partei darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass ihre Schriftsätze alsbald nach ihrem Eingang bei Gericht zur Kenntnis genommen werden und offensichtliche äußere formale Mängel dabei nicht unentdeckt bleiben. Unterbleibt ein gebotener Hinweis des Gerichts, ist der Partei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn er bei ordnungsgemäßem Geschäftsgang so rechtzeitig hätte erfolgen müssen, dass es der Partei noch möglich gewesen wäre, die Frist zu wahren.

Nach diesen Maßstäben liegt eine Verletzung der gerichtlichen Fürsorgepflicht vor. Denn es ist davon auszugehen, dass bei ordnungsgemäßem Geschäftsgang dem Prozessbevollmächtigten des Klägers ein Hinweis so rechtzeitig hätte erteilt werden können, dass er die Berufung formgerecht hätte übermitteln und einlegen können. Mit Blick auf den Transfervermerk einschließlich des darin enthaltenen "Vertrauenswürdigen Herkunftsnachweises" besteht eine einfache und wenig Zeitaufwand erfordernde Möglichkeit zu prüfen, ob ein aus einem beA versandter Schriftsatz einfach elektronisch signiert und auf einem sicheren Übermittlungsweg bei Gericht eingereicht wurde. Hierzu gehört auch die Prüfung, ob die Person, die das Dokument elektronisch signiert hat, mit derjenigen identisch ist, die Inhaberin des beA ist. Es stellt keine nennenswerte Belastung für die Funktionsfähigkeit des angerufenen Gerichts dar, zeitnah nach Eingang eines elektronischen Dokuments zu prüfen, ob die Voraussetzungen einer ordnungsgemäßen Übermittlung erfüllt sind. Hier war für die Geschäftsstellenbeamtin die Abweichung der elektronischen Signatur des Rechtsanwalts M. von Rechtsanwalt R. als dem Inhaber des beA, aus dem der Schriftsatz übermittelt worden ist, ohne Weiteres erkennbar.

Mehr zum Thema:

Rechtsprechung (siehe Leitsatz)
beA: Übermittlung der Berufungsschrift nur mit einfacher elektronischer Signatur
BGH vom 07.05.2024 - VI ZB 22/23
MDR 2024, 927
MDR0068569

Kommentierung | ZPO
§ 130a Elektronisches Dokument; Verordnungsermächtigung
Greger in Zöller, Zivilprozessordnung, 36. Aufl. 2026
10/2025

Kommentierung | ZPO
§ 233 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Greger in Zöller, Zivilprozessordnung, 36. Aufl. 2026
10/2025

Kommentierung | ZPO
§ 517 Berufungsfrist
Heßler in Zöller, Zivilprozessordnung, 36. Aufl. 2026
10/2025

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