28.08.2025

Rechtliches Gehör: Berufen auf die Unwirksamkeit der öffentlichen Zustellung des Versäumnisurteils

Wird die Berufung des Beklagten gegen das den Einspruch verwerfende Urteil des Gerichts des ersten Rechtszugs mit der Begründung zurückgewiesen, dem Beklagten sei es nach Treu und Glauben verwehrt, sich auf die Unwirksamkeit der öffentlichen Zustellung des Versäumnisurteils zu berufen, ohne dass die Voraussetzungen hierfür vorliegen, so verletzt die Entscheidung des Berufungsgerichts den Anspruch des Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs.

BGH v. 12.6.2025 - IX ZR 73/23
Der Sachverhalt:
Der Kläger ist Verwalter in dem auf Eigenantrag vom 24.10.2013 am 1.1.2014 eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der F. GmbH (Schuldnerin). Der Beklagte war Gesellschafter mit einem Geschäftsanteil von 59,259 % des Stammkapitals und Geschäftsführer der Schuldnerin, deren Verlust rd. 7, Mio. € im Jahr 2012 und rd. 4,9 Mio. € im Jahr 2013 betrug. Aufgrund eines der Schuldnerin von der P. AG am 20.3.2012 gewährten Kontokorrentkredits erteilte der Beklagte am gleichen Tag eine Bürgschaft über einen Betrag von 1. Mio. € zur Sicherung aller bestehenden, künftigen und bedingten Ansprüche der P. AG aus der bankmäßigen Geschäftsverbindung mit der Schuldnerin. Der Kontokorrentkredit, der zum 1.8.2013 i.H.v. rd. 500.000 € valutierte, wurde bis zum 23.9.2013 vollständig zurückgeführt.

Der Kläger macht gegen den Beklagten einen auf § 135 Abs. 2, § 143 Abs. 3 InsO gestützten Anspruch auf Zahlung der 500.000 € geltend. Die Klage vom 14.12.2017 konnte dem Beklagten an der angegebenen Anschrift in Großbritannien nicht zugestellt werden. Das LG bewilligte mit Beschluss vom 20.7.2018 die öffentliche Zustellung der Klage, erließ am 1.10.2018 ein Versäumnisurteil über 506.846,49 € nebst Nebenforderungen und stellte dieses aufgrund eines Beschlusses vom selben Tag ebenfalls öffentlich zu. Am 3.12.2019 legte der Beklagte Einspruch gegen das Versäumnisurteil ein und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. In der Sache begehrt er die vollständige Abweisung der Klage. Er erhebt u.a. die Verjährungseinrede.

Das LG verwarf den Einspruch wegen Verfristung als unzulässig. Die hiergegen gerichtete Berufung des Beklagten hatte vor dem OLG keinen Erfolg. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hob der BGH das Berufungsurteil auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurück.

Die Gründe:
Das OLG hat in entscheidungserheblicher Weise den Anspruch des Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs gem. Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.

Die Entscheidung der Gerichte, den Einspruch gegen das Versäumnisurteil als verfristet zu behandeln und Wiedereinsetzung nicht zu gewähren, läuft auf eine Präklusion des Sachvortrags des Einspruchsführers hinaus. Präklusionsvorschriften schränken die Möglichkeit zur Wahrnehmung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im Prozess ein und bewegen sich damit regelmäßig im grundrechtsrelevanten Bereich. Daraus folgt, dass bei ihrer Anwendung die Schwelle der Grundrechtsverletzung eher erreicht werden kann, als dies üblicherweise bei der Anwendung einfachen Rechts der Fall ist. Dabei müssen Grundsätze rechtsstaatlicher Verfahrensgestaltung in die Prüfung einbezogen werden. 

Ist die öffentliche Zustellung, gemessen an den Voraussetzungen des § 185 ZPO, unwirksam, ist es dem von der Unwirksamkeit Begünstigten verwehrt, sich auf diese zu berufen, wenn er zielgerichtet versucht hat, eine Zustellung, mit der er sicher rechnen musste, zu verhindern; in einem solchen Fall ist das Berufen auf die Unwirksamkeit rechtsmissbräuchlich und damit unbeachtlich. Liegen die Voraussetzungen einer zielgerichteten Verhinderung der Zustellung nicht vor, so wird der Zustellungsempfänger in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt, wenn die Gerichte ihm gleichwohl die Berufung auf die Unwirksamkeit der öffentlichen Zustellung verwehren und seinen Sachvortrag deshalb unberücksichtigt lassen. Denn für die Beantwortung der Frage, ob es dem Zustellungsempfänger aufgrund des § 242 BGB verwehrt ist, sich auf den Zustellungsmangel zu berufen, gilt kein anderer Maßstab als bei der Beurteilung der Voraussetzungen der öffentlichen Zustellung. Andernfalls könnten die hohen Anforderungen im Erkenntnisverfahren an die Voraussetzungen der öffentlichen Zustellung durch Bejahung treuwidrigen Verhaltens des Zustellungsempfängers im Einzelfall unterlaufen werden.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze liegt eine Verletzung des Anspruchs des Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs durch das OLG vor. Die Entscheidung, den Einspruch gegen das Versäumnisurteil als verfristet zu behandeln, läuft im hier zu beurteilenden Fall auf eine durch das Verfahrensrecht nicht gerechtfertigte Präklusion des Sachvortrags des Beklagten hinaus. Denn die vom OLG festgestellten Umstände genügen nicht, um dem Beklagten eine zielgerichtete Zustellungsvereitelung vorwerfen zu können.

Mehr zum Thema:

Kommentierung | ZPO
§ 185 Öffentliche Zustellung
Schultzky in Zöller, Zivilprozessordnung, 35. Aufl. 2024
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Kommentierung | ZPO
§ 341 Einspruchsprüfung
Herget in Zöller, Zivilprozessordnung, 35. Aufl. 2024
10/2023

Kommentierung | BGB
§ 242 Leistung nach Treu und Glauben
Böttcher in Erman, BGB, 17. Aufl. 2023
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