22.12.2022

Reiserecht: Sicherheit vor Pünktlichkeit

Ein nicht vorhergesehenes Ereignis, von dem rund die Hälfte aller vorhandenen Flugzeuge betroffen ist, betrifft typischerweise einen wesentlichen Teil der Flotte und gehört deshalb grundsätzlich nicht zur normalen Tätigkeit eines Luftfahrtunternehmens. Besteht aufgrund eines an einem Flugzeug aufgetretenen Defekts Anlass, alle Flugzeuge dieses Typs einer Untersuchung zu unterziehen, kann dem ausführenden Luftfahrtunternehmen grundsätzlich nicht angesonnen werden, zur Vermeidung von Verspätungen und Annullierungen mit der Untersuchung einzelner Maschinen zuzuwarten und die hierdurch entstehenden Risiken für die Sicherheit der Fluggäste in Kauf zu nehmen.

BGH v. 10.11.2022 - X ZR 117/21
Der Sachverhalt:
Die Zedenten hatten für den 15.10.2019 unter einer einheitlichen Buchungsnummer Flüge von Kapstadt über Zürich nach Stuttgart gebucht. Die Beklagte war ausführendes Luftfahrtunternehmen für den Teilflug von Zürich nach Stuttgart. Dieser Flug wurde allerdings annulliert. Die Zedenten kamen in Stuttgart mit einem Ersatzflug und einer Verspätung von mehr als acht Stunden an. Grund für die Verzögerung war, dass die Beklagte 28 Maschinen ihrer Airbus A220-Flotte aufgrund technischer Probleme zur Inspektion der Triebwerke stillgelegt hatte. Hintergrund war eine nach mehreren Zwischenfällen ergangene Anweisung der US-amerikanischen Luftfahrtbehörde nach bestimmten Flugzyklen Inspektionen an Maschinen dieses Typs durchzuführen. Zuvor war es am 15.10.2019 zu einem Triebwerksschaden gekommen.

Das AG hat die Beklagte antragsgemäß zur Zahlung von 1.200 € verurteilt. Das LG hat die Klage auf die Berufung der Beklagten abgewiesen. Der BGH hat die hiergegen gerichtete Revision der Klägerin zurückgewiesen.

Gründe:
Der Klägerin steht kein Anspruch auf eine Ausgleichszahlung nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. a und Art. 5 Abs. 1 Buchst. c FluggastrechteVO zu.

Außergewöhnliche Umstände, die nach Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO einem Ausgleichsanspruch wegen Annullierung oder erheblicher Verspätung entgegenstehen können, sind nach der ständigen EuGH-Rechtsprechung Umstände, die außerhalb dessen liegen, was üblicherweise mit dem Ablauf der Personenbeförderung im Luftverkehr verbunden ist oder verbunden sein kann. Insofern ist das Berufungsgericht rechtsfehlerfrei zu dem Ergebnis gelangt, dass im Streitfall außergewöhnliche Umstände vorlagen.

Entgegen der Auffassung des AG ist der Anteil der betroffenen Flugzeuge an der gesamten zur Verfügung stehenden Flotte auch dann als wesentlich anzusehen, wenn nicht nur Maschinen des Typs A220, sondern alle Kurz- und Mittelstreckenmaschinen in die Betrachtung einbezogen werden. Wenn rund die Hälfte aller vorhandenen Flugzeuge von einem Ereignis betroffen sind, führt dies typischerweise zu Störungen, die nicht mehr als unwesentlich angesehen werden können.

Selbst wenn der Beklagten insoweit ein Ermessen zugestanden hätte, gab der am 15.10.2019 aufgetretene Triebwerksschaden hinreichend Anlass, dieses Ermessen so auszuüben, dass eine Gefährdung anderer Fluggäste durch Defekte an Maschinen dieses Typs nach Möglichkeit ausgeschlossen war. Der Beklagten konnte nicht angesonnen werden, zur Vermeidung von Verspätungen und Annullierungen mit der Untersuchung einzelner Maschinen zuzuwarten und die hierdurch entstehenden Risiken für die Sicherheit der Fluggäste in Kauf zu nehmen.

Mehr zum Thema:

Rechtsprechung:
Entschädigung bei verpasstem Flug wegen überlanger Wartezeit vor der Sicherheitskontrolle
OLG Frankfurt vom 27.01.2022 - 1 U 220/20
MDR 2022, 701

Aufsatz:
Die Entwicklung des Reiserechts der Luftbeförderung einschließlich der EU-Fluggastrechte-VO im Jahre 2020
Ernst Führich, MDR 2021, 909

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