13.05.2022

Unterhalt: Gewöhnlicher Aufenthalt eines widerrechtlich in einem EU-Staat zurückgehaltenen Kindes richtet sich nach gewöhnlichem Lebensmittelpunkt

Zur Bestimmung des auf einen Unterhaltsanspruch anwendbaren Rechts ist für den gewöhnlichen Aufenthalt des Berechtigten auf den Ort seines gewöhnlichen Lebensmittelpunkts abzustellen, und zwar insbesondere bei Kindern geringen Alters. Wird der Berechtigte widerrechtlich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zurückgehalten, kann sich grundsätzlich ungeachtet dessen sein gewöhnlicher Aufenthaltsort in diesen Staat verlagert haben.

EuGH v. 12.5.2022 - C-644/20
Der Sachverhalt:
Die Klägerin und der Beklagte sind polnische Staatsangehörige, die sich seit mindestens 2012 im Vereinigten Königreich aufhielten. Ihre Kinder L und J sind im Juni 2015 bzw. im Mai 2017 im Vereinigten Königreich zur Welt gekommen. Beide Kinder haben sowohl die polnische als auch die britische Staatsangehörigkeit. 2017 reiste die Klägerin nach Polen und nahm ihre Kinder mit. Sie teilte dem Beklagten mit, dass sie beabsichtige, mit L und J dauerhaft in Polen zu bleiben. Der Beklagte sprach sich dagegen aus.

Im November 2018 verklagte die Klägerin vor einem polnischen Gericht den Beklagten namens ihrer Kinder auf monatliche Unterhaltszahlungen. Die Zuständigkeit dieses Gerichts wurde vom Beklagten nicht gerügt, und es verurteilte ihn, einem jeden der Kinder nach polnischem Recht monatlich Unterhalt zu zahlen. Der Beklagte legte gegen dieses Urteil Berufung ein. Mittlerweile hat das Berufungsgericht die Klägerin mit Beschluss vom 24.5.2019 angewiesen, bis spätestens 26.6.2019 die Kinder an den Beklagten zurückzugeben, denn sie seien widerrechtlich in Polen zurückgehalten worden, und ihr gewöhnlicher Aufenthalt habe sich unmittelbar zuvor im Vereinigten Königreich befunden. Die Klägerin kam dieser Weisung innerhalb der gesetzten Frist jedoch nicht nach.

Im Nachgang zu diesem Beschluss wirft das Berufungsgericht, das mit der Berufung des Beklagten gegen seine Verurteilung zur monatlichen Kindesunterhaltszahlung befasst ist, die Frage auf, nach welchem Recht sich die in Rede stehende Unterhaltspflicht beurteilt. Nach dem Haager Protokoll ist für Unterhaltsansprüche das Recht des Staates zur Anwendung berufen, in dem der Berechtigte seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Das Berufungsgericht möchte daher vom EuGH wissen, ob ein Kind als Unterhaltsberechtigter, soweit es darum geht, nach welchem Recht sich sein Anspruch auf Unterhalt bestimmt, einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt in dem Staat begründen kann, in dem es widerrechtlich zurückgehalten wird, wenn ein Gericht seine Rückkehr in den Staat angeordnet hat, in dem es unmittelbar vor dem widerrechtlichen Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

Während das Verfahren vor dem EuGH anhängig war, ist der Beschluss vom 24.5.2019 teilweise vom polnischen Obersten Gericht (Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten) aufgehoben worden.

Die Gründe:
Zu der Frage, welches Recht auf den Unterhaltsanspruch eines Kindes anwendbar ist, das von einem seiner Elternteile in das Gebiet eines Mitgliedstaats verbracht worden ist, ist folgendes festzustellen: Der Umstand, dass ein Gericht dieses Mitgliedstaats im Rahmen eines gesonderten Verfahrens die Rückkehr dieses Kindes in den Staat angeordnet hat, in dem es vor seinem Verbringen mit seinen Eltern seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, schließt es noch nicht aus, dass das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des genannten Mitgliedstaats begründen kann.

Bei der Auslegung des Begriffs "gewöhnlicher Aufenthalt" des Unterhaltsberechtigten ist zu prüfen, ob nicht der Umstand, dass dieser Berechtigte widerrechtlich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zurückgehalten wird, der Verlagerung seines gewöhnlichen Aufenthalts in diesen Mitgliedstaat entgegensteht. Für den Begriff "gewöhnlicher Aufenthalt" des Unterhaltsberechtigten findet sich im Haager Protokoll keine Definition. Dem Adjektiv "gewöhnlich" lässt sich entnehmen, dass der fragliche Aufenthalt einen hinreichenden Grad an Beständigkeit aufweisen muss, was vorübergehende oder gelegentliche Aufenthalte ausschließt. Grundsätzlich weist das Recht des Staates, in dem der Unterhaltsberechtigte seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, offenbar den engsten Bezug zu seiner Situation auf, weil Bestehen und Höhe der Unterhaltspflicht unter Berücksichtigung der rechtlichen und tatsächlichen Bedingungen des sozialen Umfelds desjenigen Landes bestimmt werden müssen, in dem der Berechtigte lebt und in dem er hauptsächlich seine Tätigkeiten ausübt. Also ist der gewöhnliche Aufenthalt des Unterhaltsberechtigten dort zu verorten, wo dieser tatsächlich seinen Lebensmittelpunkt hat. Dabei sind das familiäre und soziale Umfeld des Unterhaltsberechtigten zu berücksichtigen, und zwar insbesondere bei Kindern geringen Alters. Das Kindeswohl muss gebührend Berücksichtigung finden. Das erfordert es u.a., sich dessen zu vergewissern, dass das Kind im Hinblick auf das familiäre und soziale Umfeld, in dem es sein Leben verbringt, über ausreichende Mittel verfügt.

Bei der konkreten Feststellung, in welchem Staat der Unterhaltsberechtigte seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, handelt es sich um eine Tatsachenwürdigung. Mithin ist es Sache des angerufenen nationalen Gerichts, den Ort des gewöhnlichen Aufenthalts des Betroffenen zu bestimmen. Um das auf den beantragten Unterhalt anwendbare Recht im vorliegenden Fall zu ermitteln, hat das genannte Gericht bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthaltsortes des Unterhaltsberechtigten konkret auf denjenigen Zeitpunkt abzustellen, zu dem über die Klage auf Unterhalt zu entscheiden ist.

Wird der Berechtigte widerrechtlich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zurückgehalten, liefe es dem zu berücksichtigenden Kindeswohl zuwider, wenn das Vorliegen einer gerichtlichen Entscheidung eines Mitgliedstaats, mit der die Widerrechtlichkeit des Verbringens oder Zurückhaltens eines Kindes festgestellt wird, es dem Grundsatz nach verhindert, dass von einem gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats ausgegangen werden kann. In Ermangelung einer entsprechenden Regelung lässt sich kein Grund erkennen, weswegen das Haager Protokoll im Licht von oder in Anlehnung an Art. 10 der Brüssel-IIa-Verordnung auszulegen sei. Nach der letztgenannten Vorschrift, die die elterliche Verantwortung betrifft, kommt es entgegen dem Grundsatz zu keiner Verlagerung der gerichtlichen Zuständigkeit in den Mitgliedstaat, in dem das Kind seinen neuen gewöhnlichen Aufenthalt infolge eines widerrechtlichen Verbringens oder Zurückhaltens gehabt hätte, und die Zuständigkeit verbleibt in dem Mitgliedstaat, in dem das Kind zuvor seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

Für die Bestimmung des anwendbaren Rechts kann somit das angerufene nationale Gericht lediglich im Zusammenhang mit einer Beurteilung aller Umstände des Einzelfalls unter gebührender Berücksichtigung des Kindeswohls dazu veranlasst sein, zu berücksichtigen, dass das Kind womöglich rechtswidrig verbracht wurde oder zurückgehalten wird. Das vorlegende Gericht wird daher zu prüfen haben, ob in Anbetracht sämtlicher für die Situation des Kindes einschlägiger Umstände und im Hinblick auf dessen familiäres und soziales Umfeld der Aufenthalt des Kindes in dem Mitgliedstaat, in den es verbracht worden ist, von Stabilität geprägt ist.

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EuGH PM Nr. 83 vom 12.5.2022
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