06.10.2025

Unzumutbare Härte? Verletzung des Anspruchs des auf Räumung verklagten Mieters auf Gewährung rechtlichen Gehörs

Das Gericht verletzt den Anspruch des auf Räumung verklagten Mieters auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG), wenn es das Vorliegen der geltend gemachten unzumutbaren Härte i.S.v. § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB auf der Grundlage unvollständiger, unzureichender und in sich widersprüchlicher - teils für den Mieter günstiger - Ausführungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen ohne die gebotene weitere Beweiserhebung und zudem unter Inanspruchnahme nicht gegebener eigener Sachkunde verneint.

BGH v. 26.8.2025 - VIII ZR 262/24
Der Sachverhalt:
Der im Jahr 1939 geborene Beklagte bewohnt aufgrund eines mit der Voreigentümerin geschlossenen Mietvertrags seit dem Jahr 1982 eine Dreizimmerwohnung in Berlin. Er hält sich zudem häufig für einige Tage in seinem Einfamilienhaus in Travemünde auf, wohin er jeweils mit der Bahn reist. Die Kläger erwarben das Grundstück im Juli 2021. Mit Schreiben vom 1.11.2021 erklärten sie die ordentliche Kündigung des Mietverhältnisses wegen Eigenbedarfs. Der Beklagte widersprach der Kündigung und wies darauf hin, dass ein Umzug zu einer erheblichen psychischen Beeinträchtigung führen würde.

Die Kläger nehmen den Beklagten auf Räumung und Herausgabe der Wohnung in Anspruch. Der Beklagte macht u.a. geltend, für einen betagten Mieter wie ihn sei schon der Wohnungsverlust für sich genommen eine Härte; er sei aufgrund der langjährigen Mietdauer stark in das soziale Gefüge der Nachbarschaft eingebunden und habe die Wohnung mit großem Aufwand seinen Bedürfnissen angepasst, auf eigene Kosten renoviert und liebevoll eingerichtet. Unter Vorlage fachärztlicher Stellungnahmen behauptet er zudem, er sei gesundheitlich stark beeinträchtigt. Ein erzwungener Umzug führte zu einer erheblichen psychischen Beeinträchtigung verbunden mit starken, möglicherweise lebensbedrohlichen Depressionen; es drohe eine suizidale Krise. Zudem bestehe ein hohes Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko. Im Juni 2024 sei eine Zerreißung der Herzklappe aufgetreten; in Folge der Herzklappenoperation sei er schon körperlich nicht in der Lage, die Wohnung zu räumen.

Das AG gab der Klage nach Einholung eines neurologischpsychiatrischen Sachverständigengutachtens statt. Die hiergegen gerichtete Berufung, mit der sich der Beklagte allein noch gegen die Ablehnung eines Härtefalls wandte, wies das LG nach dessen persönlicher Anhörung zurück. Die Revision wurde nicht zugelassen. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten hob der BGH das Urteil des LG insoweit auf, als hinsichtlich der Härteregelung nach §§ 574 ff. BGB zum Nachteil des Beklagten erkannt worden ist, und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück.

Die Gründe:
Das LG hat, indem es hinsichtlich der Härteregelung nach §§ 574 ff. BGB und des dort geregelten Anspruchs des Mieters auf Fortsetzung des Mietverhältnisses zum Nachteil des Beklagten erkannt hat, dessen Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise verletzt.

Denn es hat bei seiner Prüfung zum Vorliegen einer unzumutbaren Härte (§ 574 Abs. 1 Satz 1 BGB) hinsichtlich der vom Beklagten behaupteten psychischen Beeinträchtigungen und der im Falle eines erzwungenen Wohnungswechsels insoweit drohenden Verschlechterung der gesundheitlichen Situation (teilweise) Ausführungen in dem gerichtlichen (neurologisch-psychiatrischen) Sachverständigengutachten zugrunde gelegt, obgleich diese unvollständig, unzureichend und zum Teil in sich widersprüchlich sind. Insoweit hat es zum Nachteil des Beklagten von der gebotenen weiteren Aufklärung des Sachverhalts in gehörswidriger Weise abgesehen. Ferner hat das LG von der Erhebung des angebotenen (kardiologischen) Sachverständigenbeweises zu der vom Beklagten zudem behaupteten Herzerkrankung abgesehen, ohne dass dies im Prozessrecht eine Stütze findet. Dies führt gem. § 544 Abs. 9 ZPO zur Aufhebung des auf die Härteregelung nach §§ 574 ff. BGB und den dort geregelten Anspruch des Mieters auf Fortsetzung des Mietverhältnisses beschränkten Berufungsurteils.

Die Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen stellen keine ausreichende Grundlage für die Überzeugungsbildung des Gerichts hinsichtlich des Vorliegens der von dem Beklagten behaupteten psychischen Beeinträchtigungen und der im Falle eines erzwungenen Wohnungswechsels insoweit drohenden Verschlechterung seiner gesundheitlichen Situation dar. Sie sind unzureichend, unvollständig und zum Teil in sich widersprüchlich. Der gerichtliche Sachverständige ist zu dem Ergebnis gelangt, dass bei dem Beklagten neurologisch "Hinweise auf eine Polyneuropathie und eine cerebral verursachte Ataxie" bestünden. Psychopathologisch seien eine "leichte depressive Störung gesamthaft" sowie im Wesentlichen im Bereich der kognitiven Leistungen eine Kurzzeitgedächtnisstörung und eine Verlangsamung festzustellen. Es gebe Hinweise auf eine affektiv-kognitive Leistungsstörung, die Ausdruck einer arteriosklerotischen Encephalopathie sei. Bezogen auf die maßgebliche Beurteilung, wie sich diese Erkrankung auf die Lebensweise, insbesondere auf die Autonomie und die psychische und physische Verfassung des Beklagten auswirkt und ob sie zumindest ernsthaft eine erhebliche Verschlechterung von dessen gesundheitlicher oder persönlicher Situation befürchten lässt, hat der gerichtliche Sachverständige lediglich einige wenige abstrakte Ausführungen gemacht.

In seinem schriftlichen Gutachten hat er angegeben, die krankhaften Zustände seien "in der Gesamtheit im Durchschnitt noch in einem teilkompensierten Bereich, wobei diese sich nur als wesentliche Beeinträchtigung feststellen" ließen. Der Beklagte sei "in seiner aktuellen Bereichssituation kompensiert und orientiert lebensfähig". Bei einer Änderung der (Umfeld-)Bedingungen sei jedoch eine "nicht mehr kompensierbare und damit rückbildungsfähige cerebrale Störung im Sinne eines arteriosklerotischen Demenzzustands" zu erwarten, der nicht therapeutisch beeinflusst werden könne. Zu der vom Beklagten vorgebrachten drohenden "suizidalen Krise" hat der Sachverständige im schriftlichen Gutachten ausgeführt, ein Suizid sei "möglich", und dies dahingehend erklärt, dass dies eine "willentliche Entscheidungssituation beinhalten" würde und sich "dann allenfalls in einem kurzzeitigen luziden Zustand ergeben könnte". Diese Ausführungen reichen nicht aus, um dem Gericht eine angemessene Beurteilung des geltend gemachten Härtegrundes und - im Rahmen der Interessenabwägung - eine ordnungsgemäße Gewichtung der beiderseitigen Interessen zu ermöglichen.

Zudem sind die Ausführungen des Sachverständigen zu Art, Ausmaß und Wahrscheinlichkeit der durch einen erzwungenen Umzug drohenden erheblichen gesundheitlichen Nachteile für den Beklagten zum Teil in sich widersprüchlich. Zunächst hat der Sachverständige den Eintritt einer Verschlechterung der gesundheitlichen und persönlichen Situation des Beklagten einschließlich der Möglichkeit eines Suizids noch als sichere Folge einer Umfeldveränderung dargestellt. Demgegenüber hat er später ausgeführt, dass "im Grunde jede Veränderung dieses gelebten Lebensraums zu einer Störung führen" könne. Er halte es für "sehr naheliegend", dass Änderungen in der Lebenssituation des Beklagten "nicht so gut wären". Dies sei für die Zukunft auch nicht beurteilbar. Das Gutachten des gerichtlichen Sachverständigen ist auch insoweit unvollständig, wie die von den Parteien im Rechtsstreit angesprochenen und in ihrer Bedeutung für die in Rede stehenden Härteregelung unterschiedlich eingeschätzten besonderen Umstände in der bisherigen persönlichen Lebensgestaltung des Beklagten - insbesondere das zwischen Berlin und Travemünde aufgeteilte Wohnen mit der hiermit verbundenen selbständigen Führung von zwei Haushalten und Vornahme regelmäßiger Bahnfahrten zwischen beiden Orten - offenkundig nur unzureichend in die Bewertung einbezogen wurden.

Vor diesem Hintergrund war das LG verpflichtet, diese offenkundigen Unklarheiten, Unvollständigkeiten und Widersprüche der gutachterlichen Ausführungen aufzuklären und auf vollständige und widerspruchsfreie Feststellungen hinzuwirken. Hiervon hat es in gehörswidriger Weise zum Nachteil des Beklagten abgesehen, indem es Teile der gutachterlichen Ausführungen, nämlich die von ihm gleichwohl als "überzeugend begründet" und "insoweit verwertbar und belastbar" bezeichnete Einschätzung des Sachverständigen zum Vorhandensein lediglich einer leichten depressiven Störung für seine Entscheidung herangezogen und auf dieser Grundlage eine unzumutbare Härte i.S.d. § 574 Abs. 1 Satz 1 BGB verneint hat, während es die - für den Beklagten günstigen - Feststellungen des schriftlichen Gutachtens - ohne den gerichtlich bestellten Sachverständigen im Berufungsverfahren ergänzend zu befragen und ersichtlich ohne selbst über die hierfür erforderliche medizinische Sachkunde zu verfügen und aufzuzeigen - als im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht (mehr) maßgeblich bewertet ("relativiert", "überholt", "klargestellt", "erschlösse sich nicht", "nicht in Übereinstimmung zu bringen") und deshalb unberücksichtigt gelassen hat.

Mehr zum Thema:

Kommentierung | BGB
§ 574 Widerspruch des Mieters gegen die Kündigung
Lützenkirchen, Mietrecht, 3. Aufl.

Rechtsprechung
Räumung: Härtegründe können durch nicht-fachärztliches Attest belegt werden
BGH vom 14.04.2025 - VIII ZR 270/22
Ulf P. Börstinghaus, MietRB 2025, 165
MIETRB0079432

Rechtsprechung
Kündigung: Härtefallprüfung bei angedrohtem Suizid
BGH vom 10.04.2024 - VIII ZR 114/22
Olaf Riecke, MietRB 2024, 213
MIETRB0068401

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