07.07.2022

Verfassungsbeschwerde gegen die Untersagung eines Besuchs des inhaftierten Beschwerdeführers zum Zwecke eines Interviews

Bei Eingriffen in die Meinungsfreiheit hat das BVerfG im Einzelnen zu prüfen, ob jene Entscheidungen bei der Feststellung und Würdigung des Tatbestands sowie der Auslegung und Anwendung einfachen Rechts die verfassungsrechtlich gewährleistete Meinungsfreiheit verletzt haben. Selbst wenn das Tatbestandsmerkmal einer Behinderung der Eingliederung gem. § 25 Nr. 2 StVollzG NRW vorliegt, muss das Gericht auf der Rechtsfolgenseite sorgfältig überprüfen, ob die Abwägung der JVA zwischen dem Grundrecht der Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers und der von ihr befürchteten negativen Auswirkung auf dessen Resozialisierung ermessensfehlerhaft war.

BVerfG 16.6.2022, 2 BvR 784/21
Der Sachverhalt:
Der Beschwerdeführer verbüßt eine mehrjährige Freiheitsstrafe in einer Justizvollzugsanstalt (JVA). Für das Ende seiner Haft ist zudem Sicherungsverwahrung notiert. Nach der Anfrage eines Journalisten, der mit dem Beschwerdeführer ein Interview zum Thema "Alternativen zur Strafhaft" führen wollte, erstellte der psychologische Dienst der JVA eine Stellungnahme, in der die Unterzeichnerin zum Ergebnis gelangte, dass es aus psychologischer Sicht nicht zu empfehlen sei, ein Interview stattfinden zu lassen. Daraufhin lehnte die JVA die Anfrage des Journalisten mit der Begründung ab, dass aufgrund der Persönlichkeit des Beschwerdeführers, auf die nicht näher eingegangen werden dürfe, die Voraussetzungen einer Besuchsuntersagung nach § 25 Nr. 2 StVollzG NRW erfüllt seien. Danach kann ein Besuch untersagt werden, wenn "zu befürchten ist, dass der Kontakt mit Personen, die nicht Angehörige der Gefangenen (...) sind, einen schädlichen Einfluss auf die Gefangenen hat oder ihre Eingliederung behindert".

Das LG hat den vom Beschwerdeführer gestellten Antrag auf gerichtliche Entscheidung als unbegründet zurückgewiesen. Die Besuchsuntersagung sei nach § 25 Nr. 2 StVollzG NRW rechtmäßig gewesen. Es lägen objektive Anhaltspunkte vor, die geeignet seien, die Versagung der Besuchserlaubnis ausreichend zu stützten. Die dagegen vom Beschwerdeführer erhobene Rechtsbeschwerde vor dem OLG blieb erfolglos. Das BVerfG hält Verfassungsbeschwerde für offensichtlich begründet.

Die Gründe:
Der angegriffene Beschluss des LG verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.

Die Auslegung und Anwendung dieser Bestimmung ist in erster Linie Aufgabe der Fachgerichte. Das BVerfG überprüft die fachgerichtliche Anwendung und Auslegung des einfachen Gesetzesrechts grundsätzlich nur daraufhin, ob sie Auslegungsfehler enthalten, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des betroffenen Grundrechts beruhen. Bei Eingriffen in die Meinungsfreiheit hat das BVerfG jedoch im Einzelnen zu prüfen, ob jene Entscheidungen bei der Feststellung und Würdigung des Tatbestands sowie der Auslegung und Anwendung einfachen Rechts die verfassungsrechtlich gewährleistete Meinungsfreiheit verletzt haben.

Die Entscheidung des LG genügt diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen allerdings nicht. So hat es das LG versäumt, die Tatbestandsmerkmale des § 25 Nr. 2 StVollzG NRW im Lichte der besonderen Bedeutung des Grundrechts der freien Meinungsäußerung für den freiheitlichen demokratischen Staat auszulegen. Es stellte maßgeblich darauf ab, dass nach der Stellungnahme der Psychologin das Interview nicht zu befürworten sei, weil es die narzisstische und dissoziale Persönlichkeit des Beschwerdeführers bestärken, ihn weiter vom Behandlungssetting entfernen sowie seine negative Haltung gegenüber der Behandlungs- und Motivationsabteilung noch weiter verstärken würde. Die Untersagung des Besuchs zu Interviewzwecken sollte demnach zum Schutz seiner Ein-gliederung in die Gesellschaft und damit zur Förderung seiner Resozialisierung erfolgen.

Unter Beachtung von Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit kann aber nicht generell davon ausgegangen werden, dass ein Presseinterview mit einem Strafgefangenen regelmäßig dessen Eingliederung behindert. Vielmehr müssen konkrete, objektiv fassbare Anhaltspunkte für die Befürchtung einer Behinderung der Eingliederung des Strafgefangenen dargelegt werden. Das LG hat sich nicht mit dem konkret angefragten Interview zum Thema "Alternativen zur Strafhaft" befasst, sondern stellte unter Verweis auf die Stellungnahme des psychologischen Dienstes fest, dass bereits das Interview an sich die Eingliederung des Beschwerdeführers behindere. Objektiv fassbare Anhaltspunkte für die Feststellung des Gerichts, dass das Tatbestandsmerkmal der Befürchtung einer Behinderung der Eingliederung des Beschwerdeführers erfüllt sei, ließen sich weder der psychologischen Stellungnahme noch den Ausführungen der JVA entnehmen.

Selbst wenn das Tatbestandsmerkmal einer Behinderung der Eingliederung gem. § 25 Nr. 2 StVollzG NRW vorläge, hätte das Gericht auf der Rechtsfolgenseite sorgfältig überprüfen müssen, ob die Abwägung der JVA zwischen dem Grundrecht der Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers und der von ihr befürchteten negativen Auswirkung auf dessen Resozialisierung ermessensfehlerhaft war. Weshalb unter Berücksichtigung der besonderen Bedeutung der Meinungsfreiheit deren Einschränkung durch die Untersagung des Interviews geeignet, erforderlich und angemessen war, ließ sich den Ausführungen des Gerichts nicht entnehmen. Eine Abwägung zwischen der Intensität des Eingriffs in die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers und dem mit der Untersagung des Interviews verfolgten Zweck, seine Eingliederung nicht zu behindern, fehlt.

Das OLG hat sich die landgerichtliche Entscheidung mit den verfassungsrechtlich zu beanstandenden Erwägungen zu eigen gemacht. Darin liegt eine eigenständige Verkennung der Bedeutung und Tragweise des Grundrechts der Meinungsfreiheit.

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BVerfG PM Nr. 60 vom 7.7.2022
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