Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch Übergehen von Vortrag zu einem übereinstimmenden Verständnis einer Abfindungsvereinbarung
BGH v. 10.12.2025 - VI ZR 323/23
Der Sachverhalt:
Die Parteien streiten über Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall im Mai 2002, bei dem der Kläger als Radfahrer von einem bei der Beklagten haftpflichtversicherten Fahrzeug verletzt wurde. Die Haftung der Beklagten dem Grunde nach steht außer Streit.
Infolge des Unfalls erlitt der Kläger, der von Beruf Pilot ist, u.a. Verletzungen im Kopf- und Nackenbereich. Im November 2008 erzielten der Kläger, seinerzeit anwaltlich vertreten durch seinen Streithelfer, und die Beklagte in Verhandlungsgesprächen eine teilweise Einigung über die von der Beklagten vorzunehmende Regulierung der Unfallschäden. Im Zuge der Verhandlungen wurde auch über die Möglichkeit einer Abfindung bezüglich des Risikos einer unfallbedingten Berufsunfähigkeit gesprochen. Im Dezember 2008 unterzeichnete der Kläger eine Abfindungserklärung und erhielt den Betrag von 75.000 € ausbezahlt.
Der Kläger macht geltend, er sei bei dem Verkehrsunfall an der Halswirbelsäule stark verletzt worden. Die dadurch ausgelösten Schmerzen dauerten bis heute an. Ende 2020 sei er für vorläufig und seit dem Jahr 2021 für endgültig flugunfähig erklärt worden. Diese endgültige Berufsunfähigkeit sei durch den Unfall im Jahr 2002 verursacht worden. Positive Kenntnis von seiner Berufsunfähigkeit habe er frühestens im Jahr 2020 erlangt. Die Beklagte habe sich bei den Vergleichsverhandlungen im Jahr 2008 bereit erklärt, einen späteren Berufsunfähigkeitsschaden, wenn er denn einträte, zu regulieren. Da seine Untersuchungen auf Flugtauglichkeit bis zum Jahr 2020 positiv ausgefallen seien, habe er nicht mit einer Fluguntauglichkeit rechnen müssen. Ein Anspruch auf Schadensersatz aufgrund seiner unfallbedingten Berufsunfähigkeit sei nicht verjährt, da die Verjährung erst mit positiver Kenntnis der Fluguntauglichkeit begonnen habe. Die Abfindungserklärung aus 2008 sei dahingehend zu verstehen, dass die Beklagte auf die Einrede der Verjährung verzichtet habe.
Das LG wies die Klage aufgrund von Verjährung ab. Das OLG wies die Berufung des Klägers zurück. Die Nichtzulassungsbeschwerde hatte vor dem BGH Erfolg und führte zur Aufhebung des angegriffenen Beschlusses und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das OLG.
Die Gründe:
Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht den Vortrag des Klägers zu einem übereinstimmenden Verständnis eines vereinbarten Verjährungsbeginns bei den Verhandlungen übergangen und die dafür benannten Zeugen - den Streithelfer, der den Kläger bei den Regulierungsverhandlungen vertrat, und die auf Seiten der Beklagten die Verhandlungen führende Mitarbeiterin H. - nicht vernommen hat und daher unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG zu der Auffassung gekommen ist, dass die vorbehaltenen Ansprüche zum Zeitpunkt der Klageerhebung bereits verjährt gewesen seien.
Der Kläger hat mit der Berufungsbegründung vorgetragen, dass beide Seiten übereinstimmend davon ausgegangen seien, dass eine künftige Berufsunfähigkeit von dem Kläger ohne Geltung von Verjährungsfristen noch gegenüber der Beklagten verfolgt werden könne. Das Berufungsgericht hat im Hinweisbeschluss dazu ausgeführt, dass es unerheblich sei, ob der Kläger - rechtsirrig - davon ausgegangen sei, die Verjährung würde erst mit dem Eintritt der tatsächlichen Berufsunfähigkeit beginnen, weshalb dem dahingehenden Beweisantritt (Zeugenvernehmung des früheren Prozessbevollmächtigten, nunmehr Streithelfer) nicht nachzugehen sei. Daraufhin hat der Streithelfer des Klägers vorgetragen, die Sachbearbeiterin H. sei nach Rücksprache mit dem Vorstand der Auffassung gewesen, die Verjährung dieses konkreten Einzelfalls solle erst dann beginnen, wenn Berufsunfähigkeit eingetreten sein werde. Er hat zu seiner Behauptung, die Parteien hätten die Abfindungserklärung bewusst so ausgehandelt, dass erst bei einer seinerzeit als unwahrscheinlich eingestuften Berufsunfähigkeit Ansprüche aus derselben "fällig" werden sollten, insofern sei das seinerzeit übereinstimmende Verständnis der Parteien über den Verjährungsbeginn maßgeblich, Beweis angetreten durch sein Zeugnis sowie das Zeugnis der Mitarbeiterin H. der Beklagten.
Dieser Sachvortrag war im Hinblick auf die vom Berufungsgericht angenommene Verjährung der klägerischen Ansprüche erheblich. Haben die Parteien eines Vertrages eine Willenserklärung übereinstimmend in einem bestimmten Sinne verstanden, ist für den Inhalt der Erklärung der übereinstimmende Parteiwille, nicht jedoch ihr Wortlaut maßgebend.
Gemessen daran hat der Kläger eine Vereinbarung über den Verjährungsbeginn der vorbehaltenen Ansprüche vorgetragen. Zwar ist mit den Entscheidungen der Vorinstanzen davon auszugehen, dass allein dem Wortlaut der "Abfindungserklärung" auch unter Berücksichtigung der Niederschrift des Ergebnisses der Verhandlungen ein Verzicht auf die Erhebung der Verjährungseinrede oder eine Vereinbarung über einen späteren Beginn der Verjährung nicht entnommen werden kann. Doch kann sich Anderes aus einem übereinstimmenden Verständnis der Parteien von den hier abgegebenen empfangsbedürftigen Willenserklärungen ergeben.
Spätestens durch die vom Kläger unterzeichnete Abfindungserklärung als Angebot und durch deren Entgegennahme seitens der Beklagten, möglicherweise auch in Gestalt der späteren Auszahlung der vereinbarten Abfindungssumme, ist ein Abfindungsvergleich zwischen den Parteien zustande gekommen, in dem Ansprüche wegen Minderverdienstes aufgrund einer zukünftigen unfallbedingten Berufsunfähigkeit vorbehalten, also von der Einbeziehung in die Abfindung ausgenommen werden sollten. Nach dem Vortrag des Klägers soll übereinstimmendes Verständnis dieses Vorbehaltes gewesen sein, dass etwaige Ansprüche gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt geltend gemacht würden und die Verjährung der von den Parteien in Betracht gezogenen Ansprüche des Klägers erst mit dem Eintritt der Berufsunfähigkeit beginnen solle. Damit wird eine gemessen an § 202 BGB grundsätzlich zulässige abweichende Vereinbarung des gesetzlichen Verjährungsbeginns behauptet, die dem Beweis zugänglich ist.
Darauf ist das Berufungsgericht im Zurückweisungsbeschluss nicht mehr eingegangen, eine Beweisaufnahme ist nicht erfolgt. Dass aus Sicht des Berufungsgerichts dieser Sachvortrag, zu dem die Zeugen als Beweis angeboten worden sind, ohnehin nicht entscheidungserheblich wäre, lässt sich dem Zurückweisungsbeschluss nicht entnehmen. Das Schweigen des Berufungsgerichts bei seiner Befassung mit der Stellungnahme zum Hinweisbeschluss lässt nur den Schluss zu, dass der Vortrag der Prozesspartei nicht oder zumindest nicht hinreichend beachtet wurde. Auch das zugehörige Beweisangebot war erheblich.
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Die Parteien streiten über Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall im Mai 2002, bei dem der Kläger als Radfahrer von einem bei der Beklagten haftpflichtversicherten Fahrzeug verletzt wurde. Die Haftung der Beklagten dem Grunde nach steht außer Streit.
Infolge des Unfalls erlitt der Kläger, der von Beruf Pilot ist, u.a. Verletzungen im Kopf- und Nackenbereich. Im November 2008 erzielten der Kläger, seinerzeit anwaltlich vertreten durch seinen Streithelfer, und die Beklagte in Verhandlungsgesprächen eine teilweise Einigung über die von der Beklagten vorzunehmende Regulierung der Unfallschäden. Im Zuge der Verhandlungen wurde auch über die Möglichkeit einer Abfindung bezüglich des Risikos einer unfallbedingten Berufsunfähigkeit gesprochen. Im Dezember 2008 unterzeichnete der Kläger eine Abfindungserklärung und erhielt den Betrag von 75.000 € ausbezahlt.
Der Kläger macht geltend, er sei bei dem Verkehrsunfall an der Halswirbelsäule stark verletzt worden. Die dadurch ausgelösten Schmerzen dauerten bis heute an. Ende 2020 sei er für vorläufig und seit dem Jahr 2021 für endgültig flugunfähig erklärt worden. Diese endgültige Berufsunfähigkeit sei durch den Unfall im Jahr 2002 verursacht worden. Positive Kenntnis von seiner Berufsunfähigkeit habe er frühestens im Jahr 2020 erlangt. Die Beklagte habe sich bei den Vergleichsverhandlungen im Jahr 2008 bereit erklärt, einen späteren Berufsunfähigkeitsschaden, wenn er denn einträte, zu regulieren. Da seine Untersuchungen auf Flugtauglichkeit bis zum Jahr 2020 positiv ausgefallen seien, habe er nicht mit einer Fluguntauglichkeit rechnen müssen. Ein Anspruch auf Schadensersatz aufgrund seiner unfallbedingten Berufsunfähigkeit sei nicht verjährt, da die Verjährung erst mit positiver Kenntnis der Fluguntauglichkeit begonnen habe. Die Abfindungserklärung aus 2008 sei dahingehend zu verstehen, dass die Beklagte auf die Einrede der Verjährung verzichtet habe.
Das LG wies die Klage aufgrund von Verjährung ab. Das OLG wies die Berufung des Klägers zurück. Die Nichtzulassungsbeschwerde hatte vor dem BGH Erfolg und führte zur Aufhebung des angegriffenen Beschlusses und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das OLG.
Die Gründe:
Die Nichtzulassungsbeschwerde rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht den Vortrag des Klägers zu einem übereinstimmenden Verständnis eines vereinbarten Verjährungsbeginns bei den Verhandlungen übergangen und die dafür benannten Zeugen - den Streithelfer, der den Kläger bei den Regulierungsverhandlungen vertrat, und die auf Seiten der Beklagten die Verhandlungen führende Mitarbeiterin H. - nicht vernommen hat und daher unter Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG zu der Auffassung gekommen ist, dass die vorbehaltenen Ansprüche zum Zeitpunkt der Klageerhebung bereits verjährt gewesen seien.
Der Kläger hat mit der Berufungsbegründung vorgetragen, dass beide Seiten übereinstimmend davon ausgegangen seien, dass eine künftige Berufsunfähigkeit von dem Kläger ohne Geltung von Verjährungsfristen noch gegenüber der Beklagten verfolgt werden könne. Das Berufungsgericht hat im Hinweisbeschluss dazu ausgeführt, dass es unerheblich sei, ob der Kläger - rechtsirrig - davon ausgegangen sei, die Verjährung würde erst mit dem Eintritt der tatsächlichen Berufsunfähigkeit beginnen, weshalb dem dahingehenden Beweisantritt (Zeugenvernehmung des früheren Prozessbevollmächtigten, nunmehr Streithelfer) nicht nachzugehen sei. Daraufhin hat der Streithelfer des Klägers vorgetragen, die Sachbearbeiterin H. sei nach Rücksprache mit dem Vorstand der Auffassung gewesen, die Verjährung dieses konkreten Einzelfalls solle erst dann beginnen, wenn Berufsunfähigkeit eingetreten sein werde. Er hat zu seiner Behauptung, die Parteien hätten die Abfindungserklärung bewusst so ausgehandelt, dass erst bei einer seinerzeit als unwahrscheinlich eingestuften Berufsunfähigkeit Ansprüche aus derselben "fällig" werden sollten, insofern sei das seinerzeit übereinstimmende Verständnis der Parteien über den Verjährungsbeginn maßgeblich, Beweis angetreten durch sein Zeugnis sowie das Zeugnis der Mitarbeiterin H. der Beklagten.
Dieser Sachvortrag war im Hinblick auf die vom Berufungsgericht angenommene Verjährung der klägerischen Ansprüche erheblich. Haben die Parteien eines Vertrages eine Willenserklärung übereinstimmend in einem bestimmten Sinne verstanden, ist für den Inhalt der Erklärung der übereinstimmende Parteiwille, nicht jedoch ihr Wortlaut maßgebend.
Gemessen daran hat der Kläger eine Vereinbarung über den Verjährungsbeginn der vorbehaltenen Ansprüche vorgetragen. Zwar ist mit den Entscheidungen der Vorinstanzen davon auszugehen, dass allein dem Wortlaut der "Abfindungserklärung" auch unter Berücksichtigung der Niederschrift des Ergebnisses der Verhandlungen ein Verzicht auf die Erhebung der Verjährungseinrede oder eine Vereinbarung über einen späteren Beginn der Verjährung nicht entnommen werden kann. Doch kann sich Anderes aus einem übereinstimmenden Verständnis der Parteien von den hier abgegebenen empfangsbedürftigen Willenserklärungen ergeben.
Spätestens durch die vom Kläger unterzeichnete Abfindungserklärung als Angebot und durch deren Entgegennahme seitens der Beklagten, möglicherweise auch in Gestalt der späteren Auszahlung der vereinbarten Abfindungssumme, ist ein Abfindungsvergleich zwischen den Parteien zustande gekommen, in dem Ansprüche wegen Minderverdienstes aufgrund einer zukünftigen unfallbedingten Berufsunfähigkeit vorbehalten, also von der Einbeziehung in die Abfindung ausgenommen werden sollten. Nach dem Vortrag des Klägers soll übereinstimmendes Verständnis dieses Vorbehaltes gewesen sein, dass etwaige Ansprüche gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt geltend gemacht würden und die Verjährung der von den Parteien in Betracht gezogenen Ansprüche des Klägers erst mit dem Eintritt der Berufsunfähigkeit beginnen solle. Damit wird eine gemessen an § 202 BGB grundsätzlich zulässige abweichende Vereinbarung des gesetzlichen Verjährungsbeginns behauptet, die dem Beweis zugänglich ist.
Darauf ist das Berufungsgericht im Zurückweisungsbeschluss nicht mehr eingegangen, eine Beweisaufnahme ist nicht erfolgt. Dass aus Sicht des Berufungsgerichts dieser Sachvortrag, zu dem die Zeugen als Beweis angeboten worden sind, ohnehin nicht entscheidungserheblich wäre, lässt sich dem Zurückweisungsbeschluss nicht entnehmen. Das Schweigen des Berufungsgerichts bei seiner Befassung mit der Stellungnahme zum Hinweisbeschluss lässt nur den Schluss zu, dass der Vortrag der Prozesspartei nicht oder zumindest nicht hinreichend beachtet wurde. Auch das zugehörige Beweisangebot war erheblich.
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