23.05.2019

Versagung von Vollstreckungsschutz gem. § 765a ZPO kann bei Suizidgefahr des Schuldners verfassungswidrig sein

Besteht bei einer Hauseigentümerin, deren Grundstück mit Haus zwangsversteigert werden soll, eine durch eine Sachverständige festgestellte erhebliche Wahrscheinlichkeit, dass die Herausnahme aus dem Haus eine Suizidgefahr auslösen würde, ist die Versagung des Vollstreckungsschutzes gem. § 765a ZPO unverhältnismäßig und damit i.S.d. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verfassungswidrig, wenn auch eine psychiatrische, nicht stationäre Behandlung erfolgsversprechend ist.

BVerfG v. 15.5.2019 - 2 BvR 2425/18
Der Sachverhalt:
Aufgrund dinglicher Ansprüche einer Gläubigerin gegen die Beschwerdeführerin ordnete das AG die Zwangsversteigerung des mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks der Beschwerdeführerin an. Diese beantragte daraufhin Vollstreckungsschutz gem. § 765a ZPO. Die Fortführung des Versteigerungsverfahrens gefährde ihre Gesundheit und ihr Leben akut. Der mit dem Zuschlag verbundene Verlust ihres Hausgrundstücks werde eine unkontrollierbare psychische Überbelastung verursachen und lebensbeendende Suizidhandlungen sehr wahrscheinlich machen.

Das AG führte den angesetzten Versteigerungstermin durch und wies den Vollstreckungsschutzantrag zurück. Die Beschwerdeführerin habe ihre Suizidgefahr nicht ausreichend vorgetragen und glaubhaft gemacht. Auf die sofortige Beschwerde der Beschwerdeführerin stellte das LG die Zwangsvollstreckung bis zur Entscheidung ein und ordnete die Einholung eines Sachverständigengutachtens zum gesundheitlichen Zustand der Beschwerdeführerin an. Die Gutachterin kam zu dem Ergebnis, dass der Verlust des Hauses bei dem aktuellen psychischen Zustand der Beschwerdeführerin geeignet sei, eine lebensbeendende Handlung sehr wahrscheinlich zu machen. Sie zeigt sich zuversichtlich, dass eine psychiatrische Behandlung innerhalb von 6 Monaten die notwendigen Veränderungen bewirken können. Sollte dies jedoch nicht erfolgreich sein, so sei eine stationäre Behandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus zu empfehlen.

Das LG wies die sofortige Beschwerde ab, da eine tatsächliche Suizidgefahr nicht erwiesen sei. Eine vorübergehende Unterbringung verbunden mit therapeutischen Maßnahmen könne zur Stabilisierung der Beschwerdeführerin und damit zur Beseitigung der Lebensgefahr führen. Die Beschwerdeführerin macht vor dem BVerfG geltend, dass die Versagung von Vollstreckungsschutz ihr Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verletze und daher verfassungswidrig sei.

Die Gründe:
Der Beschluss des LG verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.

Die Ablehnung der vorübergehenden Einstellung der Zwangsvollstreckung hält der verfassungsrechtlichen Überprüfung nicht stand, weil die Interessen der Beschwerdeführerin nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Zwar ist eine Einstellung nicht notwendig, wenn der Gefahr der Selbsttötung durch geeignete Maßnahmen begegnet werden kann. Das LG sah in der Herausnahme der Beschwerdeführerin aus ihrem häuslichen Umfeld durch vorübergehende Unterbringung gegen ihren Willen in Bezug auf die von der Sachverständigen aufgezeigten Möglichkeit eine geeignete Maßnahme.

Dabei missachtet das LG jedoch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Es verkennt, dass die Sachverständige die Unterbringung erst als zweiten Schritt für den Fall empfiehlt, dass es der Beschwerdeführerin nicht möglich sein sollte, innerhalb von 6 Monaten entsprechenden Fortschritte zu machen. Dies hält die Sachverständige zudem als erfolgsversprechend. Das LG lässt weiterhin nicht erkennen, dass es der Suizidgefahr effektiv entgegenwirkende Vorkehrungen sorgfältig geprüft und insbesondere deren Vornahme sichergestellt hat. Allein der Verweis auf die Möglichkeit der Unterbringung genügt nicht. Vielmehr hat das Vollstreckungsgericht sicherzustellen, dass die für eine Unterbringung nach polizeirechtlichen oder betreuungsrechtlichen Vorschriften zuständigen Stellen Maßnahmen zum Schutz des Lebens des Schuldners getroffen haben.

Soweit das LG die Einschätzung der Sachverständigen hinsichtlich der für den Fall des Hausverlustes bestehenden Suizidgefahr in Frage stellt, durfte es nicht ohne Darlegung eigener Sachkunde und ohne Beratung durch einen anderen Sachverständigen von den fachkundigen Feststellungen und Einschätzungen der von ihm gerade wegen seiner fehlenden medizinischen Sachkunde beauftragten Gutachterin abweichen.

Linkhinweis:
Für den auf den Webseiten des Bundesverfassungsgerichts veröffentlichten Volltext der Entscheidung klicken Sie bitte hier.
BVerfG Entscheidung vom 15.5.2019
Zurück