17.06.2025

Verzwickte Beweis- und Haftungslage bei sog. Kettenauffahrunfällen

Gegen den Auffahrenden streitet mit Blick auf §§ 1, 3 Abs. 1 u. 4 Abs. 1 StVO ein Anscheinsbeweis für eine Alleinverursachung. Diese Beweislage wird nicht schon dadurch erschüttert, dass der "Vordermann" ggf. grundlos abgebremst hat. Bei sog. Kettenauffahrunfällen ändert sich an dieser Betrachtung jedenfalls dann nichts, wenn feststeht, dass das mittlere Fahrzeug noch ohne Berührung hinter dem ersten Fahrzeug zum Stehen gekommen war, ehe das dritte Fahrzeug auf das mittlere aufprallt.

LG Stralsund v. 27.5.2025 - 2 O 204/24
Der Sachverhalt:
Der Z. war mit dem Fahrzeug der Klägerin auf einer Ortsumgehungsstraße in Stralsund auf der linken Fahrspur hinter dem Fahrzeug des X. unterwegs. Hinter dem klägerischen Fahrzeug befand sich das bei der Beklagten zu 1) haftpflichtversicherte Fahrzeug des Beklagten zu 2). Kurz vor der Aufgabelung nach Stralsund Altstadt/Sassnitz und Devin/Greifswald kam es zu einer Kollision zwischen drei Fahrzeugen, in deren Endstellung die Front des Klägerfahrzeugs in den Heckbereich des Fahrzeugs des X. und die Front des Beklagtenfahrzeugs in den Heckbereich des Klägerfahrzeugs geraten war.

Die Klägerin behauptete, ihr Fahrzeug sei durch den X. abgebremst worden und ohne Berührung hinter dessen Fahrzeug zum Stehen gekommen. Erst danach sei der Beklagte zu 2) in das klägerische Fahrzeug hineingefahren und habe dieses auf das Fahrzeug des X. aufgeschoben. Ursache all dessen sei ein Bremsmanöver des X. gewesen. Die Klägerin ging von einer Alleinhaftung der Beklagtenseite aus, die am klägerischen Fahrzeug nur den Heckschaden reguliert hatte und dies zudem nur in Höhe einer Quote von 70 %. Sie forderte weitere 6.959 € von den Beklagten.

Die Beklagten behaupteten, das klägerische Fahrzeug sei ohne Zutun des Beklagtenfahrzeugs auf das Fahrzeug des X. aufgefahren. Erst danach sei es zum Aufprall des Beklagten- auf das Klägerfahrzeug gekommen. Bei dieser Sachlage liege eine der Klägerin zuzurechnende Bremswegverkürzung vor, weshalb nur der Heckschaden und dieser auch nur quotal zu regulieren sei.

Das LG hat der Klage vollumfänglich stattgegeben.

Die Gründe:
Die Klägerin hat Anspruch auf vollen Schadensersatz gegen den Beklagten zu2) aus §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 2 StVG und gegen die Beklagte zu 1) aus § 1 PflVG i.V.m. § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG, wobei beide Beklagte in Gesamtschuld (§ 421 Satz 1 BGB) stehen (§ 115 Abs. 1 Satz 4 VVG).

Nach Beweisaufnahme stand mit dem notwendigen Grad an Gewissheit fest, dass eine Bremswegverkürzung nicht vorgelegen hatte, sondern das klägerische Fahrzeug tatsächlich zunächst noch ohne Berührung hinter dem Fahrzeug des X. zum Stehen gekommen war und erst sodann rückwärtig durch das Beklagtenfahrzeug erfasst und auf das Fahrzeug des X. aufgeschoben worden ist. Damit haben die Beklagten am klägerischen Fahrzeug auch den Frontschaden zu regulieren und zwar - auch und erstrecht bzgl. des Heckschadens - zu 100 %.

Dass gegen den Auffahrenden mit Blick auf §§ 1, 3 Abs. 1 u. 4 Abs. 1 StVO ein Anscheinsbeweis für eine Alleinverursachung streitet, ist in der Rechtsprechung anerkannt (statt aller etwa: BGH, Urt. v. 3.12.2024 - VI ZR 18/24; OLG Koblenz, Urt. v. 16.11.2020 - 12 U 207/19; OLG Schleswig, Urt. v. 19.3.2024 - 7 U 82/23). Anerkannt ist auch, dass diese Anscheinsbeweislage nicht schon dadurch erschüttert wird, dass der "Vordermann" ggf. grundlos abgebremst hat, weshalb an dieser Stelle offenbleiben kann, was konkret dem X.letztlich Anlass für seine (Voll-) Bremsung gegeben hatte. Bei sog. Kettenauffahrunfällen ändert sich an dieser Betrachtung jedenfalls dann nichts, wenn feststeht, dass - wie hier - das mittlere Fahrzeug noch ohne Berührung hinter dem ersten Fahrzeug zum Stehen gekommen war, ehe das dritte Fahrzeug auf das mittlere aufprallt.

Mehr zum Thema:

Rechtsprechung:
Nachweis eines versicherten Unfalls in der Kfz-Kaskoversicherung
OLG Karlsruhe vom 15.10.2024 - 12 U 12/24

Aufsatz:
Aktuelle Entwicklungen im zivilprozessualen Beweisrecht
Holger Jäckel, MDR 2024, 688

Beratermodul VersR - Zeitschrift für Versicherungsrecht:
Das Beratermodul für den gezielten digitalen Zugriff auf sämtliche Inhalte der VersR zum Versicherungsrecht, zum Schadenrecht und zum Haftungsrecht. Inklusive online Archiv und Selbststudium nach § 15 FAO. Mit dem Beratermodul VersR haben Sie Zugriff auf das Archiv der Zeitschrift VersR seit 1970 mit jeweils 24 Ausgaben pro Jahr. 4 Wochen gratis nutzen!

Aktionsmodul Zivilrecht
Otto Schmidt Answers optional dazu buchen und die KI 4 Wochen gratis nutzen! Die Answers-Lizenz gilt für alle Answers-fähigen Module, die Sie im Abo oder im Test nutzen. Topaktuelle Werke: Zöller ZPO mit Online-Aktualisierungen, Vorwerk Das Prozessformularbuch, Erman BGB uvm. Inklusive LAWLIFT Dokumentautomation Zivilprozessrecht, Beiträge zum Selbststudium nach § 15 FAO und Unterhaltsrechner. 4 Wochen gratis nutzen!
Landesrecht M-V