Voraussetzungen für eine Beteiligung des Patienten an der Therapiewahl
BGH v. 21.1.2025 - VI ZR 204/22
Der Sachverhalt:
Im Mai 1997 war die damals 12-jährige Klägerin wegen des Verdachts eines zerebralen Anfallsleidens sowie wegen einer Fehlhaltung und Instabilität zwischen dem ersten und zweiten Halswirbelkörper im Bereich der Densspitze mit Engstellung des Spinalkanals in die Klinik für Neurochirurgie der Beklagten zu 1) überwiesen worden. Der Beklagten zu 1) hat den Eltern der Klägerin zu einem operativen Eingriff geraten. Die erste Operation wurde am 16.1.1998, die zweite nach einem Sturz am 14.4.1998 durchgeführt. Es folgte eine dritte OP am 23.4.1998.
Alle Eingriffe durch die Beklagten 2) bis 5) wurden nach der sog. "Gallie-Technik" mit Verdrahtung der Wirbel vorgenommen. Postoperativ wurde festgestellt, dass die Klägerin ateminsuffizient und nicht ansprechbar war. Sie leidet seitdem an einer inkompletten Querschnittslähmung. Die Klägerin hat die Indikation des operativen Vorgehens in Frage gestellt. Die Aufklärung ihrer Eltern sei unzureichend gewesen, insbesondere seien sie nicht über mögliche alternative Behandlungsmethoden zu der zu diesem Zeitpunkt schon veralteten Operationsmethode nach Gallie aufgeklärt worden. Bereits die Auswahl der Operationsmethode sei fehlerhaft gewesen, die Eingriffe seien fehlerhaft ausgeführt worden.
Das LG hat die Beklagten als Gesamtschuldner zur Zahlung von Schmerzensgeld i.H.v. 400.000 € verurteilt. Das OLG hat das Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen. Auf die hiergegen gerichtete Revision der Klägerin hat der BGH das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurückverwiesen.
Gründe:
Die Verneinung eines Behandlungsfehlers in Gestalt einer fehlerhaften Methodenwahl wie auch die Beurteilung der Folgen des Aufklärungsmangels hielten der revisionsrechtlichen Prüfung nicht stand. Rechtlichen Bedenken begegnete zudem die Beweiswürdigung im Zusammenhang mit der Frage nach der hypothetischen Einwilligung der Eltern.
Die Therapiewahl ist primär Sache des Arztes, dem insoweit grundsätzlich ein weiter Beurteilungsspielraum zukommt. Der Arzt ist bei der Wahl der Therapie insbesondere nicht stets auf den jeweils sichersten therapeutischen Weg festgelegt. Allerdings muss ein höheres Risiko in den besonderen Sachzwängen des konkreten Falles oder in einer günstigeren Heilungsprognose eine sachliche Rechtfertigung finden; jedenfalls hat der Arzt alle bekannten und medizinisch vertretbaren Sicherungsmaßnahmen anzuwenden, die eine erfolgreiche und komplikationsfreie Behandlung gewährleisten, und muss umso vorsichtiger vorgehen, je einschneidender ein Fehler sich für den Patienten auswirken kann. Ob der Arzt einen Behandlungsfehler begangen hat, der zu einer Gesundheitsschädigung des Patienten geführt hat, beantwortet sich ausschließlich danach, ob der Arzt unter Einsatz der von ihm zu fordernden medizinischen Kenntnisse und Erfahrungen im konkreten Fall vertretbare Entscheidungen über die diagnostischen sowie therapeutischen Maßnahmen getroffen und diese Maßnahmen sorgfältig durchgeführt hat.
Im vorliegenden Fall kam es darauf an, ob die Wahl der (älteren) Verdrahtungsmethode angesichts der anerkannten Verschraubungsmethode bei den drei Eingriffen medizinisch vertretbar war, ob es sich also um eine medizinisch vertretbare Alternative handelte, d.h. eine verantwortliche medizinische Abwägung unter Vergleich der zu erwartenden Vorteile dieser Methode und ihrer abzusehenden und zu vermutenden Nachteile mit der alternativen operativen Behandlungsmethode unter Berücksichtigung des Wohles des Patienten die Anwendung dieser Methode rechtfertigen konnte. Demzufolge fehlte es hier an den notwendigen Feststellungen zur Vertretbarkeit der Wahl der Verdrahtungsmethode in der konkreten Behandlungssituation und zu der Frage, ob es nicht geboten gewesen wäre, die Klägerin an eine Klinik mit Spezialkenntnissen und Erfahrungen mit der Behandlung dieser seltenen Erkrankung weiter zu verweisen.
Das OLG hat auch Schadensersatzansprüche der Klägerin gegen die Beklagten wegen unzureichender Aufklärung der Eltern der Klägerin mit rechtsfehlerhafter Begründung verneint. Zu beanstanden waren die Ausführungen zur Frage des Kausalzusammenhangs zwischen dem ohne rechtswirksame Einwilligung vorgenommenen Eingriff, der ersten Operation der Klägerin bei der Beklagten, und der Querschnittslähmung. Soweit das Berufungsgericht angenommen hatte, die Klägerin müsse auch beweisen, dass sich ihre Eltern nach zutreffender und vollständiger Aufklärung für die Operationsalternative mit der Verschraubungsmethode entschieden hätten, beruhte dies auf einer Verkennung der Beweislast. Die Behauptungs- und Beweislast dafür, dass der Patient sich auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung zu der tatsächlich durchgeführten Behandlung entschlossen hätte, trifft nicht den Patienten, sondern den Arzt (vgl. BGH, Urt. v. 2.7.2024 - VI ZR 363/23).
Durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegneten auch die Erwägungen des Berufungsgerichts, die fehlende Einwilligung der Eltern der Klägerin in die erste Operation unter Anwendung der Verdrahtungstechnik führe nicht zur Rechtswidrigkeit des Eingriffs, weil die Behandlungsseite sich auf den Einwand der hypothetischen Einwilligung berufen habe und die Eltern der Klägerin einen Entscheidungskonflikt nicht plausibel gemacht hätten. Es meinte, in den Aussagen der Eltern dominiere der Hinweis darauf, dass man den Ärzten vertraue, sich also letztlich auch bei vollständiger Aufklärung doch der Empfehlung der Ärzte für die Gallie-Methode angeschlossen hätte, was ausdrücklich gegen einen Entscheidungskonflikt spreche. Damit hatte das OLG das Ergebnis der Beweisaufnahme aber nur unvollständig gewürdigt (§ 286 Abs. 1 ZPO).
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Im Mai 1997 war die damals 12-jährige Klägerin wegen des Verdachts eines zerebralen Anfallsleidens sowie wegen einer Fehlhaltung und Instabilität zwischen dem ersten und zweiten Halswirbelkörper im Bereich der Densspitze mit Engstellung des Spinalkanals in die Klinik für Neurochirurgie der Beklagten zu 1) überwiesen worden. Der Beklagten zu 1) hat den Eltern der Klägerin zu einem operativen Eingriff geraten. Die erste Operation wurde am 16.1.1998, die zweite nach einem Sturz am 14.4.1998 durchgeführt. Es folgte eine dritte OP am 23.4.1998.
Alle Eingriffe durch die Beklagten 2) bis 5) wurden nach der sog. "Gallie-Technik" mit Verdrahtung der Wirbel vorgenommen. Postoperativ wurde festgestellt, dass die Klägerin ateminsuffizient und nicht ansprechbar war. Sie leidet seitdem an einer inkompletten Querschnittslähmung. Die Klägerin hat die Indikation des operativen Vorgehens in Frage gestellt. Die Aufklärung ihrer Eltern sei unzureichend gewesen, insbesondere seien sie nicht über mögliche alternative Behandlungsmethoden zu der zu diesem Zeitpunkt schon veralteten Operationsmethode nach Gallie aufgeklärt worden. Bereits die Auswahl der Operationsmethode sei fehlerhaft gewesen, die Eingriffe seien fehlerhaft ausgeführt worden.
Das LG hat die Beklagten als Gesamtschuldner zur Zahlung von Schmerzensgeld i.H.v. 400.000 € verurteilt. Das OLG hat das Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen. Auf die hiergegen gerichtete Revision der Klägerin hat der BGH das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurückverwiesen.
Gründe:
Die Verneinung eines Behandlungsfehlers in Gestalt einer fehlerhaften Methodenwahl wie auch die Beurteilung der Folgen des Aufklärungsmangels hielten der revisionsrechtlichen Prüfung nicht stand. Rechtlichen Bedenken begegnete zudem die Beweiswürdigung im Zusammenhang mit der Frage nach der hypothetischen Einwilligung der Eltern.
Die Therapiewahl ist primär Sache des Arztes, dem insoweit grundsätzlich ein weiter Beurteilungsspielraum zukommt. Der Arzt ist bei der Wahl der Therapie insbesondere nicht stets auf den jeweils sichersten therapeutischen Weg festgelegt. Allerdings muss ein höheres Risiko in den besonderen Sachzwängen des konkreten Falles oder in einer günstigeren Heilungsprognose eine sachliche Rechtfertigung finden; jedenfalls hat der Arzt alle bekannten und medizinisch vertretbaren Sicherungsmaßnahmen anzuwenden, die eine erfolgreiche und komplikationsfreie Behandlung gewährleisten, und muss umso vorsichtiger vorgehen, je einschneidender ein Fehler sich für den Patienten auswirken kann. Ob der Arzt einen Behandlungsfehler begangen hat, der zu einer Gesundheitsschädigung des Patienten geführt hat, beantwortet sich ausschließlich danach, ob der Arzt unter Einsatz der von ihm zu fordernden medizinischen Kenntnisse und Erfahrungen im konkreten Fall vertretbare Entscheidungen über die diagnostischen sowie therapeutischen Maßnahmen getroffen und diese Maßnahmen sorgfältig durchgeführt hat.
Im vorliegenden Fall kam es darauf an, ob die Wahl der (älteren) Verdrahtungsmethode angesichts der anerkannten Verschraubungsmethode bei den drei Eingriffen medizinisch vertretbar war, ob es sich also um eine medizinisch vertretbare Alternative handelte, d.h. eine verantwortliche medizinische Abwägung unter Vergleich der zu erwartenden Vorteile dieser Methode und ihrer abzusehenden und zu vermutenden Nachteile mit der alternativen operativen Behandlungsmethode unter Berücksichtigung des Wohles des Patienten die Anwendung dieser Methode rechtfertigen konnte. Demzufolge fehlte es hier an den notwendigen Feststellungen zur Vertretbarkeit der Wahl der Verdrahtungsmethode in der konkreten Behandlungssituation und zu der Frage, ob es nicht geboten gewesen wäre, die Klägerin an eine Klinik mit Spezialkenntnissen und Erfahrungen mit der Behandlung dieser seltenen Erkrankung weiter zu verweisen.
Das OLG hat auch Schadensersatzansprüche der Klägerin gegen die Beklagten wegen unzureichender Aufklärung der Eltern der Klägerin mit rechtsfehlerhafter Begründung verneint. Zu beanstanden waren die Ausführungen zur Frage des Kausalzusammenhangs zwischen dem ohne rechtswirksame Einwilligung vorgenommenen Eingriff, der ersten Operation der Klägerin bei der Beklagten, und der Querschnittslähmung. Soweit das Berufungsgericht angenommen hatte, die Klägerin müsse auch beweisen, dass sich ihre Eltern nach zutreffender und vollständiger Aufklärung für die Operationsalternative mit der Verschraubungsmethode entschieden hätten, beruhte dies auf einer Verkennung der Beweislast. Die Behauptungs- und Beweislast dafür, dass der Patient sich auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung zu der tatsächlich durchgeführten Behandlung entschlossen hätte, trifft nicht den Patienten, sondern den Arzt (vgl. BGH, Urt. v. 2.7.2024 - VI ZR 363/23).
Durchgreifenden rechtlichen Bedenken begegneten auch die Erwägungen des Berufungsgerichts, die fehlende Einwilligung der Eltern der Klägerin in die erste Operation unter Anwendung der Verdrahtungstechnik führe nicht zur Rechtswidrigkeit des Eingriffs, weil die Behandlungsseite sich auf den Einwand der hypothetischen Einwilligung berufen habe und die Eltern der Klägerin einen Entscheidungskonflikt nicht plausibel gemacht hätten. Es meinte, in den Aussagen der Eltern dominiere der Hinweis darauf, dass man den Ärzten vertraue, sich also letztlich auch bei vollständiger Aufklärung doch der Empfehlung der Ärzte für die Gallie-Methode angeschlossen hätte, was ausdrücklich gegen einen Entscheidungskonflikt spreche. Damit hatte das OLG das Ergebnis der Beweisaufnahme aber nur unvollständig gewürdigt (§ 286 Abs. 1 ZPO).
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