30.12.2021

Vorverlegung eines Fluges um eine mehr als eine Stunde stellt Flugannullierung dar

Ein Flug ist als "annulliert" anzusehen, wenn das ausführende Luftfahrtunternehmen ihn um mehr als eine Stunde vorverlegt. Wurde ein bestimmter Flug gebucht, kann unter Umständen auch dann ein Ausgleichsanspruch gegen das ausführende Luftfahrtunternehmen bestehen, wenn ihm die Buchung nicht übermittelt wurde.

EuGH v. 21.12.2021 - C-146/20 u.a.
Der Sachverhalt:
Das LG Korneuburg in Österreich und das LG Düsseldorf sind mit mehreren Rechtsstreitigkeiten zwischen Fluggästen sowie den Unternehmen Airhelp und flightright auf der einen Seite und den Fluggesellschaften Azurair, Corendon Airlines, Eurowings, Austrian Airlines und Laudamotion auf der anderen Seite wegen Ausgleichsansprüchen der Fluggäste, u.a. aufgrund der Vorverlegung ihres Fluges, befasst.

Die beiden Gerichte ersuchen den EuGH um eine Reihe von Klarstellungen zu den Voraussetzungen, unter denen Fluggäste die in der Verordnung (EG) Nr. 261/2004 über Fluggastrechte vorgesehenen Ansprüche, namentlich den Ausgleichsanspruch (je nach Entfernung 250 €, 400 € oder 600 €) bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen, erheben können.

Die Gründe:
Ein Flug ist als "annulliert" anzusehen, wenn das ausführende Luftfahrtunternehmen ihn um mehr als eine Stunde vorverlegt. In einem solchen Fall ist die Vorverlegung als erheblich anzusehen, denn sie kann für die Fluggäste in gleicher Weise wie eine Verspätung zu schwerwiegenden Unannehmlichkeiten führen. Eine solche Vorverlegung nimmt den Fluggästen die Möglichkeit, frei über ihre Zeit zu verfügen und ihre Reise oder ihren Aufenthalt nach Maßgabe ihrer Erwartungen zu gestalten. Das Luftfahrtunternehmen muss im Fall einer erheblichen Vorverlegung des Fluges, die zu einem Ausgleichsanspruch führt (was u.a. eine verspätete Benachrichtigung von der Vorverlegung voraussetzt), stets den Gesamtbetrag zahlen (also je nach Entfernung 250 €, 400 € oder 600 €). Eine Kürzung der etwaigen Ausgleichszahlung um 50 % mit der Begründung, man habe dem Fluggast eine anderweitige Beförderung angeboten, mit der er sein Endziel ohne Verspätung habe erreichen können, ist nicht möglich. Im Übrigen kann die vor Reisebeginn an den Fluggast gerichtete Mitteilung über die Vorverlegung des Fluges ein Angebot einer anderweitigen Beförderung darstellen.

Ein Fluggast, der einen Flug gebucht hat, verfügt nicht nur dann über eine "bestätigte Buchung", die Voraussetzung für die Inanspruchnahme der in der Verordnung vorgesehenen Rechte ist, wenn er im Besitz eines Flugscheins ist, sondern auch dann, wenn er vom Reiseunternehmen einen anderen Beleg erhalten hat, durch den ihm die Beförderung auf einem bestimmten, durch Abflug- und Ankunftsort, Abflug- und Ankunftszeit und Flugnummer individualisierten Flug versprochen wird. Es spielt insoweit keine Rolle, ob das Reiseunternehmen von dem betreffenden Luftfahrtunternehmen eine Bestätigung in Bezug auf die Abflug- und Ankunftszeit dieses Fluges erhalten hat. Vom Fluggast kann nicht verlangt werden, dass er sich Informationen über die Beziehungen zwischen dem Reiseunternehmen und dem Luftfahrtunternehmen beschafft.

Ferner kann ein Luftfahrtunternehmen im Verhältnis zu einem Fluggast als "ausführendes Luftfahrtunternehmen" (gegen das sich die in der Verordnung vorgesehenen Ansprüche in erster Linie richten) eingestuft werden, wenn der Fluggast mit einem Reiseunternehmen einen Vertrag für einen bestimmten Flug dieses Luftfahrtunternehmens geschlossen hat, ohne dass das Luftfahrtunternehmen die Flugzeiten bestätigt hat und ohne dass das Reiseunternehmen bei dem Luftfahrtunternehmen eine Buchung für den Fluggast vorgenommen hat. Ein ausführendes Luftfahrtunternehmen, das aufgrund eines Verhaltens des Reiseunternehmens den Fluggästen eine Ausgleichszahlung nach der Verordnung leisten muss, hat die Möglichkeit, gegen das Reiseunternehmen Regressansprüche zu erheben.

Die "planmäßige Ankunftszeit" eines Fluges, die maßgeblich ist bei der Prüfung, ob eine einen Ausgleichsanspruch begründende erhebliche Vorverlegung oder Verspätung vorliegt, kann sich auch aus einem anderen Beleg als einem dem Fluggast vom Reiseunternehmen ausgestellten Flugschein ergeben. Im Fall der Nichtbeförderung oder der Annullierung von Flügen muss das ausführende Luftfahrtunternehmen den Fluggast darüber unterrichten, unter welcher genauen Unternehmensbezeichnung und Anschrift er eine Ausgleichszahlung verlangen kann und welche Unterlagen er seinem Verlangen ggf. beifügen soll; es muss den Fluggast jedoch nicht über den genauen Betrag der Ausgleichszahlung unterrichten, die er unter Umständen beanspruchen kann. Ob die Verpflichtung, den Fluggast rechtzeitig über die Annullierung seines Fluges zu unterrichten, eingehalten wurde, ist ausschließlich anhand der Verordnung über Fluggastrechte zu beurteilen und nicht anhand der Richtlinie 2000/31/EG über den elektronischen Geschäftsverkehr.

Es ist davon auszugehen, dass ein Fluggast, der über einen Vermittler einen Flug gebucht hat, nicht über die Annullierung dieses Fluges unterrichtet wurde, wenn das ausführende Luftfahrtunternehmen die Verständigung von der Annullierung dem Vermittler (etwa einer elektronischen Plattform), über den der Vertrag über die Beförderung im Luftverkehr mit dem betreffenden Fluggast geschlossen wurde, mindestens zwei Wochen vor der planmäßigen Abflugzeit übermittelt hat, der Vermittler den Fluggast aber nicht fristgerecht über die Annullierung unterrichtet hat und der Fluggast den Vermittler nicht ausdrücklich ermächtigt hat, die vom ausführenden Luftfahrtunternehmen übermittelten Informationen entgegenzunehmen. Schließlich kann ein Flug nicht als "annulliert" angesehen werden, wenn das ausführende Luftfahrtunternehmen dessen Abflugzeit ohne sonstige Änderung des Fluges um weniger als drei Stunden verschiebt.

Mehr zum Thema:
  • Rechtsprechung: BGH vom 31.8.2021, X ZR 25/20 - Keine Anrechnung einer Ausgleichszahlung nach FluggastrechteVO auf vorgerichtliche Anwaltskosten (MDR 2021, 1381)
  • Aufsatz: Die Entwicklung des Reiserechts der Luftbeförderung einschließlich der EU-Fluggastrechte-VO im Jahre 2020 (Führich, MDR 2021, 909)
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EuGH PM Nr. 226 vom 21.12.2021
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