02.10.2025

Wirkungen einer schriftlichen ärztlichen Invaliditätsfeststellung

Die Wirkung einer nach den Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen erforderlichen Invaliditätsfeststellung beschränkt sich auf den vom Arzt benannten Verletzungsbereich, der allerdings nicht zu eng eingegrenzt werden darf. Wenn sich aus der fristgemäßen Bescheinigung eines Orthopäden die unfallbedingte Verletzung von Muskeln und Sehnen sowie daraus folgende dauerhafte Bewegungseinschränkungen ergeben, nimmt auch eine dieselben Körperbereiche betreffende Schmerzsymptomatik an der Feststellungswirkung teil.

OLG Nürnberg v. 29.9.2025, 8 U 736/25
Der Sachverhalt:
Die Parteien stritten über weitergehende Ansprüche aus einer privaten Unfallversicherung, die der Kläger seit 2010 bei der Beklagten unterhielt. Dem Vertrag lagen insbesondere die Allgemeinen Unfallversicherungs-Bedingungen der Beklagten (AUB) sowie die Besonderen Bedingungen für das Produkt "B... Unfallschutz Comfort" zugrunde. Vereinbart war u.a. eine Invaliditäts-Grundsumme von 50.000 €, die sich bedingungsgemäß auf bis zu 150.000 € erhöhen kann. Hintergrund des Rechtsstreits war ein Arbeitsunfall, den der Kläger im April 2022 erlitten und bei dem er sich eine Ruptur der ischiocruralen Muskulatur am linken Sitzbein sowie eine Sehnenruptur in der rechten Schulter zugezogen hatte.

Der Kläger machte geltend, bei ihm bestehe unfallbedingt eine Schmerzsymptomatik in Form neuropathischer Schmerzen (schmerzbedingte Durchschlafstörungen, schmerzbedingte Schoninnervation, Störung der Propriozeption), die bislang nicht berücksichtigt worden seien. Der Invaliditätsgrad betrage auch unter Berücksichtigung etwaiger degenerativer Vorschädigungen 70%, so dass sich die geschuldete Leistung auf insgesamt 35.000 € belaufe. Die Beklagte zahlte vorgerichtlich 7.000 € an den Kläger und weigerte sich weitere 28.000 € an ihn zu zahlen.

Das LG hat die Klage vollständig abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das OLG das Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LG zurückverwiesen.

Die Gründe:
Das Urteil des LG beruhte auf einem entscheidungserheblichen Rechtsfehler (§ 513 Abs. 1 ZPO). Infolgedessen bestanden durchgreifende Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der in erster Instanz getroffenen Feststellungen, welche die Durchführung der bislang unterbliebenen Beweisaufnahme gebieten (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).

Das LG hat den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt, indem es dessen Sachvortrag übergangen hatte. Konkret hat die Vorinstanz § 296 Abs. 1 ZPO fehlerhaft angewendet und den Kläger zu Unrecht mit seinem Vorbringen ausgeschlossen. Es stellt einen die Zurückverweisung rechtfertigenden wesentlichen Verfahrensmangel dar, wenn das Erstgericht den innerhalb einer nach § 139 Abs. 5 ZPO gewährten Frist erfolgten ergänzenden Sachvortrag einer Partei als verspätet zurückweist.

Im Streitfall scheiterte eine weitergehende Invaliditätsleistung aus dem Unfall von April 2022 nicht bereits daran, dass die behaupteten "neurologischen Beeinträchtigungen" nicht fristgemäß von einem Arzt schriftlich festgestellt worden waren (entgegen LGU 5-9). Das Bedingungswerk sieht hierfür eine Frist von 18 Monaten nach dem Unfall vor (Ziffer 5 der Besonderen Vereinbarungen), so dass die Feststellung bis zum 17.10.2023 zu erfolgen hatte. Die Einhaltung dieser Frist stellt - wie schon der Bedingungstext selbst klarstellt - eine Anspruchsvoraussetzung dar (vgl. BGH, Urt. v. 7.3.2007 - IV ZR 137/06).

Die Wirkung einer nach den AUB erforderlichen Invaliditätsfeststellung beschränkt sich auf den vom Arzt benannten Verletzungsbereich, der allerdings nicht zu eng eingegrenzt werden darf. Wenn sich aus der fristgemäßen Bescheinigung eines Orthopäden die unfallbedingte Verletzung von Muskeln und Sehnen sowie daraus folgende dauerhafte Bewegungseinschränkungen ergeben, nimmt auch eine dieselben Körperbereiche betreffende Schmerzsymptomatik an der Feststellungswirkung teil. Die ärztliche Invaliditätsfeststellung zu einem Dauerschaden in einem bestimmten Verletzungsbereich schließt demgegenüber (nur) solche Verletzungen und Schäden aus, die zwar aufgrund desselben Unfalls, aber entweder - wie etwa psychisch bedingte Einschränkungen - mittels einer anderen Kausalkette entstanden sind oder sich an ganz anderen Körperstellen auswirken.

Die Sache ist gem. § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO auf Antrag des Klägers an das LG zurückzuverweisen. Ein solcher Antrag konnte auch noch nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist gestellt werden (vgl. BGH, Urt. v. 18.10.2022 - XI ZR 606/20). Es ist eine weitere Verhandlung erforderlich. Der Prozess ist weder zur Entscheidung reif noch kann die Entscheidungsreife mit vertretbarem Aufwand herbeigeführt werden. Vielmehr ist eine umfangreiche Beweisaufnahme notwendig. Es ist zunächst ein neurologisches Sachverständigengutachten zu der vom Kläger behaupteten Schmerzsymptomatik und deren Unfallkausalität einzuholen. Anschließend wird ein weiteres unfallchirurgisch-orthopädisches Fachgutachten einzuholen sein, um unter Berücksichtigung der unstreitig erlittenen Verletzungen von Muskeln und Sehnen eine Gesamtbemessung - zum Neubemessungsstichtag 17.4.2025 - vorzunehmen.

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