11.11.2025

Zu Fragen der Kausalität und Erheblichkeit eines Anwaltsverschuldens bei der Postausgangskontrolle

Geht ein fristgebundener Schriftsatz für das Rechtsmittelverfahren beim unzuständigen Ausgangsgericht ein oder ist die Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts "ohne weiteres", bzw. "leicht und einwandfrei" zu erkennen, ist dieses grundsätzlich (lediglich) verpflichtet, den Schriftsatz im ordentlichen Geschäftsgang an das zuständige Rechtsmittelgericht weiterzuleiten. Insofern ist üblicherweise damit zu rechnen, dass ein an eine zentrale gerichtliche Annahmestelle gesandter Schriftsatz am nächsten Werktag auf der zuständigen Geschäftsstelle eingeht und dem zuständigen Richter an dem darauffolgenden Werktag vorgelegt wird. Zudem kann nicht erwartet werden, dass die richterliche Verfügung der Weiterleitung der Rechtsmittelschrift noch am selben Tag zur Geschäftsstelle gelangt und dort ausgeführt wird. Vielmehr entspricht es dem ordentlichen Geschäftsgang, dass die Geschäftsstelle die richterlich verfügte Weiterleitung am darauffolgenden Werktag umsetzt.

BGH v. 24.9.2025 - VIII ZB 34/24
Der Sachverhalt:
Der Kläger nimmt die Beklagte nach Kündigung eines Wohnraummietverhältnisses wegen Zahlungsverzugs auf Räumung und Herausgabe in Anspruch. Das AG gab der Klage statt. Gegen dieses, ihr am 27.2.2024 zugestellte Urteil legte die Beklagte fristgerecht Berufung beim zuständigen LG Lüneburg ein. Nachdem das LG mit Verfügung vom 30.4.2024 darauf hingewiesen hatte, dass eine Berufungsbegründung nicht fristgerecht eingereicht worden sei, beantragte die Beklagte mit einem am 4.5.2024 beim LG eingegangenen Schriftsatz Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und begründete zugleich die Berufung. 

Ihre Prozessbevollmächtigte habe die Berufungsbegründung am 25.4.2024 fertiggestellt und um 20.10 Uhr mittels des beA an das AG Lüneburg übermittelt. Vor der Übermittlung habe sie den Schriftsatz und dessen Anlage geöffnet und überprüft, ob die richtigen Dateien hochgeladen worden seien. Nach der Übermittlung habe sie den Übermittlungsstatus im Sendebericht geprüft, welcher ihr den Eingang der Nachricht bei dem AG Lüneburg angezeigt habe. Tags darauf habe sie das beA nicht genutzt und am Samstag, dem 27.4.2024, sei sie an einem grippalen Infekt erkrankt, aufgrund dessen sie bis zum 30.4.2024 arbeitsunfähig gewesen sei. Ohne ihre Erkrankung hätte sie das beA am letzten Tag der Frist, am Montag, dem 29.4.2024, dazu genutzt, um in einer Strafsache einen Schriftsatz an das AG Hamburg-Mitte zu versenden. Dabei wäre ihr die fehlerhafte Versendung der Berufungsbegründung an das AG Lüneburg mit Sicherheit aufgefallen. Ohne ihre Erkrankung wäre es daher noch zu einer fristgerechten Einreichung der Berufungsbegründung beim LG Lüneburg gekommen.

Das LG wies den Wiedereinsetzungsantrag zurück und verwarf die Berufung als unzulässig. Der Beklagten sei eine Wiedereinsetzung nicht zu gewähren, weil sie nicht ohne ihr Verschulden an der Einhaltung der Berufungsbegründungsfrist gehindert gewesen sei; insoweit müsse sie sich ein Verschulden ihrer Prozessbevollmächtigten nach § 85 Abs. 2 ZPO zurechnen lassen. Denn diese habe nicht kontrolliert, ob die Übermittlung an den richtigen Empfänger erfolgt sei. Die Rechtsbeschwerde der Beklagten hatte vor dem BGH keinen Erfolg.

Die Gründe:
Das LG hat die Berufung der Beklagten zu Recht gem. § 522 Abs. 1 Satz 2 ZPO als unzulässig verworfen.

Ein Rechtsanwalt hat durch organisatorische Vorkehrungen sicherzustellen, dass ein fristgebundener Schriftsatz rechtzeitig gefertigt wird und innerhalb der laufenden Frist beim zuständigen Gericht eingeht. Der Rechtsanwalt kann diese Ausgangskontrolle auf zuverlässiges Büropersonal übertragen. Übernimmt er sie aber selbst, muss er auch für eine wirksame Ausgangskontrolle Sorge tragen. Im Streitfall hat eine ausreichende Ausgangskontrolle nicht stattgefunden. Der der Beklagten demnach gem. § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnende Fehler bei der Kontrolle der Übermittlung der Berufungsbegründung war auch ursächlich für die Fristversäumung. Die Ursächlichkeit entfällt nicht dadurch, dass die Beklagte mit einer Weiterleitung ihres beim AG Lüneburg eingegangenen Schriftsatzes bis zum Ablauf der Berufungsbegründungsfrist an das LG hätte rechnen können.

Geht ein fristgebundener Schriftsatz für das Rechtsmittelverfahren beim unzuständigen Ausgangsgericht ein oder ist die Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts "ohne weiteres", bzw. "leicht und einwandfrei" zu erkennen, ist dieses grundsätzlich (lediglich) verpflichtet, den Schriftsatz im ordentlichen Geschäftsgang an das zuständige Rechtsmittelgericht weiterzuleiten. Insofern ist üblicherweise damit zu rechnen, dass ein an eine zentrale gerichtliche Annahmestelle gesandter Schriftsatz am nächsten Werktag, hier also am Freitag, dem 26.4.2024, auf der zuständigen Geschäftsstelle eingeht und dem zuständigen Richter an dem darauffolgenden Werktag, also am Montag, dem 29.4.2024, und nicht schon am Freitag, dem 26.4.2024, vorgelegt wird. Zudem kann nicht erwartet werden, dass die richterliche Verfügung der Weiterleitung der Rechtsmittelschrift noch am selben Tag zur Geschäftsstelle gelangt und dort ausgeführt wird. Vielmehr entspricht es dem ordentlichen Geschäftsgang, dass die Geschäftsstelle die richterlich verfügte Weiterleitung am darauffolgenden Werktag, hier also am Dienstag, dem 30.4.2024, umsetzt.

Die rechtliche Erheblichkeit der unzureichenden Postausgangskontrolle ist auch nicht deshalb entfallen, weil die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist auch auf den zeitlich nachfolgenden Umstand zurückzuführen ist, dass die Prozessbevollmächtigte der Beklagten nach ihrer anwaltlichen Versicherung vom 27. bis zum 30.4.2024 arbeitsunfähig erkrankt gewesen sei und infolgedessen die fehlerhafte Adressierung der Berufungsbegründung vor dem Ablauf der Berufungsbegründungsfrist nicht hätte bemerken können. Nach den Grundsätzen der sog. "überholenden Kausalität" schließt ein früheres Verschulden einer Partei oder eines Prozessbevollmächtigten zwar die Wiedereinsetzung ausnahmsweise dann nicht aus, wenn dessen rechtliche Erheblichkeit durch ein späteres, der Partei oder ihrem Bevollmächtigten nicht zuzurechnendes Ereignis entfällt.

Die Wertung, dass die rechtliche Erheblichkeit eines Verschuldens des Prozessbevollmächtigten infolge einer späteren Ursache entfällt, erscheint jedoch nur dann gerechtfertigt, wenn der Prozessbevollmächtigte durch eine allgemeine Arbeitsanweisung Vorsorge dafür getroffen hatte, dass bei normalem Verlauf der Dinge die Frist trotz seines Verschuldens gewahrt worden wäre. Davon kann nach hier nicht ausgegangen werden, da die Prozessbevollmächtigte der Beklagten lediglich behauptet hat, ihr wäre die fehlerhafte Übermittlung der Berufungsbegründung aus Anlass einer von ihr beabsichtigten Versendung eines Schriftsatzes in einem anderen (Straf-)Verfahren aufgefallen. Ein solchermaßen zufälliges Zusammentreffen von Ereignissen rechtfertigt es nicht, die rechtliche Erheblichkeit des Anwaltsverschuldens zu verneinen.

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