01.12.2025

Zum Beginn der Verjährungsfrist bei Inanspruchnahme des Rechtsanwalts wegen der Verletzung anwaltlicher Pflichten

Die in der Rechtsberaterhaftung für den Beginn der Verjährungsfrist erforderliche Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis von den den Schadensersatzanspruch begründenden Umständen kann im Regelfall nicht allein deswegen angenommen werden, weil der Mandant Kenntnis von einem ihm nachteiligen Berufungsurteil erlangt. Maßgeblich ist, ob er aufgrund der ihm bekannten Umstände - etwa der auch aus Sicht eines juristischen Laien erkennbaren Eindeutigkeit der Urteilsgründe des Berufungsurteils oder dem Verhalten seines rechtlichen Beraters zu den Urteilsgründen des Berufungsurteils - eine Pflichtwidrigkeit des Beraters und den Schaden gekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt hat (Ergänzung zu BGH v. 29.10.2020 - IX ZR 10/20, WM 2022, 133).

BGH v. 9.10.2025 - IX ZR 18/24
Der Sachverhalt:
Der Kläger nimmt den beklagten Rechtsanwalt auf Schadensersatz wegen der Verletzung anwaltlicher Pflichten im Zusammenhang mit einer Deckungsanfrage bei einem Rechtsschutzversicherer in Anspruch. Der Kläger unterhielt bis zum 30.6.2004 eine Rechtsschutzversicherung bei der Z. AG. Ab 1.7.2004 bestand eine Rechtsschutzversicherung bei der A. AG. Diesem Versicherungsvertrag lagen die Allgemeinen Bedingungen für die Rechtsschutzversicherung, Stand 1.1.2004, zugrunde.

Der Beklagte vertrat den Kläger in zwei Verfahren gegen die S. Für den ersten, im Jahr 2009 von der S. eingeleiteten Rechtsstreit stellte die R. GmbH als Schadensabwicklungsunternehmen der A. AG den Kläger für alle drei Instanzen von den Verfahrenskosten frei. Für den zweiten, im Jahr 2010 eingeleiteten Rechtsstreit stellte der Beklagte als Prozessbevollmächtigter des Klägers dem Schadensabwicklungsunternehmen seine Vergütung mit insgesamt rd. 47.000 € in Rechnung. Das Schadensabwicklungsunternehmen lehnte die Tragung dieser Kosten ab. Der Kläger nahm daraufhin, vertreten durch den Beklagten, das Schadensabwicklungsunternehmen auf Zahlung in Anspruch. Das OLG Frankfurt a.M. wies die Klage mit Urteil vom 2.8.2016 i.H.v. rd. 24.000 € ab. Zur Begründung führte es u.a. aus, der Kläger habe bei seinem Vorversicherer lediglich um Deckungsschutz für den ersten, im Jahr 2009 eingeleiteten Rechtsstreit, nicht aber auch um Deckungsschutz für den zweiten, im Jahr 2010 eingeleiteten Rechtsstreit nachgesucht. Eine erneute Deckungsanfrage für den zweiten Rechtsstreit sei aber nicht entbehrlich gewesen; es habe sich um einen völlig neuen Prozess mit einem anderen Streitgegenstand gehandelt, für den der Kläger eine neue Deckungsanfrage habe stellen müssen. Die vom Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des OLG Frankfurt a.M. vom 2.8.2016 eingelegte Beschwerde wies der BGH mit Beschluss vom 18.4.2018 zurück.

Mit Schreiben vom 27.12.2018 teilte der Kläger dem Beklagten mit, dass er beabsichtige, gegen ihn Ansprüche auf Schadensersatz i.H.v. "schätzungsweise 100.000 €" wegen der unterbliebenen Deckungsanfrage für den zweiten Rechtsstreit geltend zu machen. Er forderte den Beklagten zudem auf, seiner Haftpflichtversicherung einen Versicherungsfall - auch bzgl. weiterer, nicht näher bezeichneter Schadensersatzansprüche des Klägers - anzuzeigen und einen Verzicht auf die Verjährungseinrede zu erklären. Für den Fall, dass eine Verzichtserklärung nicht rechtzeitig abgegeben werde, kündigte er an, eine Schlichtungsstelle anzurufen. Der Beklagte teilte dem Kläger am 28.12.2018 mit, dass er einem Streitbeilegungsverfahren nicht zustimmen werde. Einen Verzicht auf die Verjährungseinrede erklärte er nicht. Am 31.12.2018 beantragte der Kläger bei der Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft Berlin die Durchführung einer Streitschlichtung über einen Betrag von rd. 45.000 €. Nachdem der Beklagte gegenüber der Schlichtungsstelle erklärt hatte, am Schlichtungsverfahren nicht teilzunehmen, wurde das Schlichtungsverfahren am 4.2.2019 für beendet erklärt.

Am 31.12.2019 beantragte der Kläger den Erlass eines Mahnbescheids über 120.573 € gegen den Beklagten, in dem die geltend gemachte Hauptforderung mit "Schadensersatz aus Anwalt-Vertrag gem. diverse Mandate aus Anwaltsverträgen 119-120-138-154/10 151/09 u.a. vom 01.01.09 bis 31.12.2019" bezeichnet war. Gegen den am 10.2.2020 antragsgemäß erlassenen Mahnbescheid erhob der Beklagte am 17.2.2020 Widerspruch. Am 29.9.2021 reichte der Kläger seine auf Zahlung von rd. 24.000 € nebst Zinsen gerichtete Klageschrift beim LG ein.

Das LG wies die Klage ab. Die Berufung des Klägers, mit der er seinen Zahlungsantrag über noch rd. 22.000 € nebst Zinsen weiterverfolgte, hatte keinen Erfolg. Auf die Revision des Klägers hob der BGH das Urteil des OLG auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung dorthin zurück.

Die Gründe:
Es lässt sich nicht ausschließen, dass die am 29.9.2021 eingereichte Klage die Verjährung gehemmt hat. Die bisher vom OLG getroffenen Feststellungen rechtfertigen nicht die Annahme, dass die Verjährungsfrist bereits mit dem Schluss des Jahres 2016 in Lauf gesetzt worden ist. Die Begründung des OLG, der Kläger habe mit der Kenntnisnahme von den Entscheidungsgründen des Urteils des OLG Frankfurt a.M. vom 2.8.2016 eine ungleich festere Kenntnis von der Rechtslage erlangt und deswegen Kenntnis von den seinen Schadensersatzanspruch begründenden Umständen i.S.d. § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB gehabt, trägt für sich genommen nicht.

Vorliegend hatte der Kläger mit dem Urteil des OLG Frankfurt a.M. vom 2.8.2016 zwar Kenntnis davon, dass er den Prozess gegen das Schadensabwicklungsunternehmen auch in zweiter Instanz verloren hat. Anders als das OLG meint, kann allein daraus nicht geschlossen werden, der Kläger habe bereits zu diesem Zeitpunkt Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis von den seinen Schadensersatzanspruch begründenden Umständen i.S.d. § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB gehabt. Der Senat hat bislang entschieden, dass ein Mandant nicht schon dann hinreichende Kenntnis von einer Pflichtwidrigkeit seines Rechtsanwalts hat, wenn das AG mit der Terminsladung einen Hinweis zur Rechtslage erteilt, der Anwalt aber zur Fortsetzung des Rechtsstreits rät, oder ein nachteiliges erstinstanzliches Urteil ergangen ist. Nichts anderes gilt regelmäßig dann, wenn der Mandant Kenntnis davon erlangt, einen Prozess auch in zweiter Instanz verloren zu haben. Allein die Kenntnis vom Prozessverlust vermittelt dem Mandanten nicht ohne weiteres zugleich die Kenntnis davon, dass sein Rechtsanwalt von dem üblichen rechtlichen Vorgehen abgewichen ist oder Maßnahmen nicht eingeleitet hat, die aus rechtlicher Sicht zur Vermeidung eines Schadens erforderlich waren.

Auch wenn ein Mandant einen Prozess bereits in zwei Instanzen verloren hat, ist es für den Mandanten regelmäßig schwierig zu beurteilen, ob sein Anwalt fehlerhaft gearbeitet hat und ob ihm daraus ein Schaden entstanden ist. Von dem Mandanten kann, auch wenn er Kenntnis von einem zu seinem Nachteil ergangenen zweitinstanzlichen Urteil erlangt hat, nicht erwartet werden, dass er die Rechtslage selbständig und besser einzuschätzen vermag als sein Anwalt. Maßgeblich für die Kenntnis von einer Pflichtwidrigkeit des Rechtsanwalts ist das Fortbestehen des Vertrauens in die Fachkunde des Rechtsanwalts. Ein Mandant, der auf die Fachkunde seines Rechtsanwalts vertrauen darf, hat nicht allein deshalb, weil er einen Prozess in zweiter Instanz verloren hat, eine ausreichende Veranlassung, die anwaltliche Leistung in Frage zu stellen. Nicht jeder Prozessverlust indiziert eine Pflichtwidrigkeit des Rechtsanwalts. Anders ist dies erst dann, wenn der Mandant aufgrund der ihm bekannten Umstände - etwa der auch aus Sicht eines juristischen Laien erkennbaren Eindeutigkeit der Urteilsgründe des Berufungsurteils oder dem Verhalten seines rechtlichen Beraters zu den Urteilsgründen des Berufungsurteils - eine Pflichtwidrigkeit des Beraters und den Schaden gekannt oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt hat.

Der Senat hat wiederholt ausgesprochen, dass der Mandant insbesondere dann keine Anhaltspunkte für ein fehlerhaftes Verhalten seines Anwalts hat, wenn der Anwalt im Rahmen eines fortbestehenden Mandats gegenüber dem Mandanten oder in Ausübung des Mandats nach außen hin die Rechtsansicht vertritt, ein Fehlverhalten liege nicht vor und zur Fortsetzung eines Rechtsstreits oder zur Einlegung eines Rechtsbehelfs rät. Der Mandant darf sich darauf verlassen, dass der von ihm beauftragte Anwalt die angefallenen Rechtsfragen fehlerfrei beantwortet und der erteilte Rechtsrat zutreffend ist. Bei kontroversen Auffassungen in einem Prozess ist es nicht die Sache des Mandanten, die Rechtsansichten seines Anwalts zu überprüfen oder durch einen weiteren Rechtsberater überprüfen zu lassen.

Im Streitfall hat das OLG über den Umstand hinaus, dass der Kläger Kenntnis von dem Urteil des OLG Frankfurt a.M. vom 2.8.2016 erlangt hat, keine Feststellungen getroffen, die auf eine Kenntnis des Klägers von einer Pflichtwidrigkeit des Beklagten schließen lassen. Das OLG hat den Sachverhalt nicht ausreichend ausgeschöpft und insbesondere die Reaktion des Klägers außer Acht gelassen. Für eine grob fahrlässige Unkenntnis des Mandanten genügt es nicht, wenn sich aus dem Urteil hinreichende Anhaltspunkte ergeben, um an der Richtigkeit der Rechtsauffassung des Anwalts zu zweifeln. Denn der Kläger hat hier gegen das ihm nachteilige Urteil des OLG Frankfurt a.M. vom 2.8.2016 Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision eingelegt. Eine grob fahrlässige Unkenntnis hinsichtlich der Pflichtwidrigkeit einer unterlassenen erneuten Deckungsanfrage beim Vorversicherer kann daher nicht beurteilt werden, ohne zu klären, aus welchen Gründen der Kläger Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision einlegte. Entscheidend für eine grob fahrlässige Unkenntnis wäre daher, ob sich dem Kläger spätestens mit dem Urteil des OLG Frankfurt a.M. 2.8.2016 trotz seiner Entscheidung, den Rechtsstreit weiterzuführen, aufdrängen musste, dass eine erneute Deckungsanfrage beim Vorversicherer unerlässlich gewesen ist, und daher die Ausführungen im Urteil des OLG Frankfurt a.M. dazu führten, dass der Kläger das Vertrauen in die Richtigkeit der Beratung des Beklagten verloren hatte. Das Berufungsgericht stellt hierzu keine Tatsachen fest.

Mehr zum Thema:

Rechtsprechung (siehe Leitsätze)
Für den Beginn der Verjährungsfrist erforderliche Kenntnis von den Umständen, die den Schadensersatzanspruch gegen den Rechtsberater begründen, wenn der Mandant aus den ihm bekannten Umständen den Schluss auf einen Schadensersatzanspruch gezogen hat (Ergänzung zu BGH, Urteil vom 6. Februar 2014 = BGHZ 200, 172 = WM 2014, 575); keine Erklärung des Streithelfers mit Nichtwissen zulässig, wenn sie eine eigene Handlung der Hauptpartei betrifft oder diese die Tatsache wahrgenommen hat
BGH vom 29.10.2020 - IX ZR 10/20
WM 2022, 133

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Rechtsprechung (siehe Leitsätze)
Kenntnis des Mandanten von den den Schadensersatzanspruch begründenden Umständen und den Rechtsfolgen
BGH vom 29.10.2020 - IX ZR 10/20
VersR 2021, 44

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