23.01.2023

Zum Umfang der Aufsichtspflicht gegenüber einem Kleinkind in der elterlichen Wohnung

Die Rechtsprechung gesteht Kindern erst ab einem Alter von vier Jahren einen gewissen Freiraum zu. Schon ab einem Alter von etwa 3 Jahren müssen Kinder in einer geschlossenen Wohnung nicht mehr ständig beobachtet werden, sondern es ist ihnen ist mit Blick auf die persönliche Entfaltung und Entwicklung die Gelegenheit zu geben, sich allein zu beschäftigen.

OLG Saarbrücken v. 22.12.2022, 14 O 13/19
Der Sachverhalt:
Der K. war am Unfalltag gegen 16.25 Uhr auf der L309 aus Richtung Oberkirchen kommend in Fahrtrichtung St. Wendel unterwegs. Der damals vierjährige Sohn der Beklagten überquerte kurz nach dem Ortseingangsschild Leitersweiler mit seinem Dreirad die Straße, aus der Sicht des K. von links kommend. Es kam zur Kollision mit dem Pkw, bei der das Kind schwer verletzt wurde. Es war in Begleitung seines siebenjährigen Bruders und eines achtjährigen Freundes, der mit seinem Fahrrad die Straße bereits zuvor überquert hatte.

Das gegen den K. wegen fahrlässiger Körperverletzung eingeleitete Ermittlungsverfahren wurde gem. § 153a Abs. 2 StPO nach Erfüllung der ihm als Auflage auferlegten Ableistung von 100 Stunden gemeinnütziger Arbeit eingestellt. Das verletzte Kind, vertreten durch seine Eltern, nahm den K., die Halterin des Pkw und den Haftpflichtversicherer auf Schadensersatz und Schmerzensgeld in Anspruch. Das LG gab der Klage im vollen Umfang statt und verurteilte die Beklagten als Gesamtschuldner u.a. zur Zahlung eines Schmerzensgelds von 12.000 €.

Der im vorliegenden Rechtsstreit klagende Haftpflichtversicherer zahlte nach Abschluss des Verfahrens weitere 10.417 € an das Kind. Später forderte er dessen Eltern, die hiesigen Beklagten, zur Zahlung eines Betrags von 10.043 € auf. Zur Begründung berief er sich auf eine Verletzung der elterlichen Aufsichtspflicht, aufgrund derer die Beklagten ihm entsprechend einer Haftungsquote von 30 % im Wege des Gesamtschuldnerregresses zum teilweisen Ausgleich der unfallbedingt geleisteten Zahlungen verpflichtet seien. Die Beklagten wiesen eine Einstandspflicht zurück.

Der Kläger behauptete, der K. habe kurz vor dem Ortseingangsschild seine Geschwindigkeit auf die ab dort geltende Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h reduziert. Das Kind habe plötzlich und überraschend aus einem Feldweg kommend versucht, den auf der anderen Seite der Straße gelegenen Feldweg zu erreichen. Trotz sofort eingeleiteter Vollbremsung habe der Zeuge eine Kollision nicht mehr verhindern können. Der Kläger war der Ansicht, ihm stehe gem. §§ 840, 426 BGB sowie aus § 1664 BGB ein Anspruch gegen die Beklagten auf Gesamtschuldnerausgleich zu, weil diese ihre elterliche Aufsichtspflicht gegenüber ihrem Kind verletzt und dadurch zu dem Unfallereignis beigetragen hätten.

Das LG hat die Beklagten unter Abweisung der weitergehenden Klage verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kläger 9.287 € zu zahlen. Auf die Berufung der Beklagten hat das OLG das Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen.

Die Gründe:
Entgegen der rechtlichen Würdigung des LG war eine Aufsichtspflichtverletzung der Beklagten auf der Grundlage der erstinstanzlich getroffenen Feststellungen nicht anzunehmen. Damit schieden Regressansprüche des Klägers gegen die Beklagten unter dem Gesichtspunkt des Gesamtschuldnerausgleichs mangels eines Schadensersatzanspruchs des Kindes gegen seine Eltern bereits dem Grunde nach aus.

Nach ständiger BGH-Rechtsprechung bestimmt sich das Maß der gebotenen Aufsichtspflicht nach Alter, Eigenart und Charakter des Kindes sowie danach, was den Aufsichtspflichtigen in ihren jeweiligen Verhältnissen zugemutet werden kann. Entscheidend ist, was verständige Aufsichtspflichtige nach vernünftigen Anforderungen unternehmen müssen, um Schäden zu verhindern. Dabei kommt es für die Haftung stets darauf an, ob der Aufsichtspflicht nach den besonderen Gegebenheiten des konkreten Falles genügt worden ist. Das Maß der geschuldeten Aufsicht erhöht sich mit der Gefahrträchtigkeit der konkreten Situation.

Spielen Kinder in der Nähe von Straßen oder in der Nähe gefährlicher Gegenstände, ist mehr Aufsicht angebracht als innerhalb eines abgegrenzten, risikoarmen Bereichs. Kleinkinder bedürfen prinzipiell ständiger Aufsicht, damit sie sich nicht Gefahren in ihrer Umgebung aussetzen, die sie aufgrund ihrer Unerfahrenheit und Unbesonnenheit noch nicht erkennen und beherrschen können. Die Rechtsprechung gesteht Kindern erst ab einem Alter von vier Jahren einen gewissen Freiraum zu. Schon ab einem Alter von etwa 3 Jahren müssen Kinder in einer geschlossenen Wohnung nicht mehr ständig beobachtet werden, sondern es ist ihnen ist mit Blick auf die persönliche Entfaltung und Entwicklung die Gelegenheit zu geben, sich allein zu beschäftigen. Der Aufsichtspflichtige muss jedoch sicherstellen, dass er stets die Möglichkeit hat, Gefahrensituationen in kürzester Zeit zu erkennen und sachgerecht einzugreifen.

Im Streitfall hielt sich das Kind zunächst gemeinsam mit seinen Eltern im Wohnzimmer auf, wo er fernsah. Der Beklagte erhielt sodann einen Anruf seines in Syrien befindlichen Bruders, weshalb er wegen des besseren Handyempfangs vom Wohnzimmer in die angrenzende Küche ging. Die Beklagte befand sich im Badezimmer, um zu duschen, so dass beide das Kind für eine gewisse Zeit nicht sehen konnten und ihnen das Verlassen der Wohnung nicht aufgefallen war. Auf der Grundlage dieser Feststellungen konnte beiden Beklagten eine Verletzung ihrer Aufsichtspflicht gegenüber ihrem Sohn nicht zur Last gelegt werden.

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