22.12.2022

Zumutbare Maßnahmen i.S.v. Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO

Zu den zumutbaren Maßnahmen i.S.v. Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO gehört es, dem Fluggast eine mögliche anderweitige direkte oder indirekte Beförderung mit einem Flug anzubieten, den das betroffene oder ein anderes Luftfahrtunternehmen durchführt und der mit weniger Verspätung als der nächste Flug des betreffenden Luftfahrtunternehmens ankommt, es sei denn, die Durchführung einer solchen anderweitigen Beförderung stellt für das betreffende Unternehmen angesichts seiner Kapazitäten zum maßgeblichen Zeitpunkt ein nicht tragbares Opfer dar. Vortrag des in Anspruch genommenen Luftfahrtunternehmens zu solchen anderweitigen Beförderungsmöglichkeiten ist nicht deshalb entbehrlich, weil die für die Verspätung ursächlich gewordenen Störungen auf einem Ersatzflug eingetreten sind.

BGH v. 10.11.2022 - X ZR 97/21
Der Sachverhalt:
Der Kläger nimmt die Beklagte aus eigenem und abgetretenem Recht auf eine Ausgleichszahlung i.H.v. 2.400 € nach der Fluggastrechteverordnung in Anspruch.

Der Kläger buchte bei der Beklagten für sich, seine Ehefrau und seine beiden Töchter einen Flug von Santa Clara (Cuba) nach München am 30.4.2019. Wegen der Zerstörung des Flughafens in Santa Clara durch ein Unwetter wurden die Fluggäste auf einen Ersatzflug umgebucht, der von Varadero (Cuba) aus startete.

Auf dem Ersatzflug kam es zu einer außerplanmäßigen Zwischenlandung in Miami (USA) wegen eines medizinischen Notfalls eines anderen Passagiers. Wegen des hohen Gewichts bei dieser Landung wurde das Flugzeug einer Sicherheitsprüfung unterzogen. Ein sofortiger Weiterflug nach Abschluss dieser Prüfung hätte dazu geführt, dass die vorgeschriebenen Ruhezeiten der Besatzung nicht hätten eingehalten werden können. Der Flug startete daher erst nach Einhaltung der Ruhezeit und erreichte München mit mehr als zwanzig Stunden Verspätung.

Das AG gab der Klage statt; das LG wies sie ab. Auf die Revision des Klägers hob der BGH das Berufungsurteil auf und verwies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LG zurück.

Die Gründe:
Zutreffend ist das LG davon ausgegangen, dass sowohl die Zerstörung des Flughafens in Santa Clara als auch die Zwischenlandung aufgrund eines medizinischen Notfalls außergewöhnliche Umstände i.S.v. Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO darstellen. Entgegen der Auffassung des LG ist die Beklagte jedoch gehalten, zu anderweitigen Möglichkeiten einer Ersatzbeförderung vorzutragen.

Nach der Rechtsprechung des EuGH muss das Luftfahrtunternehmen alles ihm Mögliche und Zumutbare tun, um zu vermeiden, dass es durch außergewöhnliche Umstände genötigt ist, einen Flug zu annullieren, oder dass der Flug nur mit einer großen Verspätung durchgeführt werden kann, deren Folgen für den Fluggast einer Annullierung gleichkommen. Welche Maßnahmen einem Luftfahrtunternehmen in diesem Zusammenhang zumutbar sind, bestimmt sich nach den Umständen des Einzelfalls. Es kommt zum einen darauf an, welche Vorkehrungen ein Luftfahrtunternehmen nach guter fachlicher Praxis treffen muss, damit nicht bereits bei gewöhnlichem Ablauf des Luftverkehrs geringfügige Beeinträchtigungen das Luftfahrtunternehmen außerstande setzen, seinen vertraglichen Verpflichtungen nachzukommen und den Flugplan im Wesentlichen einzuhalten. Zum anderen muss das Luftfahrtunternehmen, wenn eine mehr als geringfügige Beeinträchtigung tatsächlich eintritt oder erkennbar einzutreten droht, alle ihm in dieser Situation zu Gebote stehenden Maßnahmen ergreifen, um nach Möglichkeit zu verhindern, dass hieraus eine Annullierung oder große Verspätung resultiert.

Entgegen der Auffassung des LG gehört es zu den danach gebotenen Maßnahmen, dem Fluggast eine mögliche anderweitige direkte oder indirekte Beförderung mit einem Flug anzubieten, den das betroffene oder ein anderes Luftfahrtunternehmen durchführt und der mit weniger Verspätung als der nächste Flug des betreffenden Luftfahrtunternehmens ankommt, es sei denn, die Durchführung einer solchen anderweitigen Beförderung stellt für das betreffende Unternehmen angesichts seiner Kapazitäten zum maßgeblichen Zeitpunkt ein nicht tragbares Opfer dar. Diese Rechtsprechung steht in Einklang mit der Systematik der Fluggastrechteverordnung. Nach Art. 5 Abs. 3 FluggastrechteVO hat das ausführende Luftfahrtunternehmen grundsätzlich alle zumutbaren Maßnahmen zu ergreifen, die ihrer Art nach geeignet sind, eine Annullierung oder große Verspätung zu vermeiden. Zu diesen Maßnahmen kann auch eine anderweitige Beförderung gehören.

Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung war Vortrag der Beklagten zu anderweitigen Beförderungsmöglichkeiten nicht deshalb entbehrlich, weil die für die Verspätung ursächlich gewordenen Störungen auf einem Ersatzflug eingetreten sind. Die Beurteilung der Frage, welche Maßnahmen zumutbar sind, hängt wie bereits dargelegt von den Umständen des Einzelfalls ab. Ausschlaggebend ist dabei stets, welche Maßnahmen in der konkreten Situation zumutbar sind. In diesem Zusammenhang mag der Umstand, dass das Luftfahrtunternehmen bereits Maßnahmen getroffen hat, um einer zuvor aufgetretenen Störung Rechnung zu tragen, im Einzelfall dazu führen, dass weitere Maßnahmen in Reaktion auf zusätzlich aufgetretene Störungen als nicht mehr tragbares Opfer anzusehen wären. Dies enthebt das Luftfahrtunternehmen aber nicht der Pflicht, sich ungeachtet einer bereits eingetretenen Störung auch bei jeder weiteren Störung um zumutbare Maßnahmen zu bemühen. Vor diesem Hintergrund ist die Beklagte im Streitfall gehalten, näher vorzutragen, welche Maßnahmen in Betracht kamen, um eine Annullierung oder große Verspätung des Ersatzflugs zu vermeiden. Nur auf der Grundlage solchen Vorbringens ist es möglich zu beurteilen, ob in Betracht kommende Maßnahmen noch zumutbar waren.

Mehr zum Thema:

Rechtsprechung:
Entschädigung bei verpasstem Flug wegen überlanger Wartezeit vor der Sicherheitskontrolle
OLG Frankfurt vom 27.01.2022 - 1 U 220/20
MDR 2022, 701

Aufsatz:
Die Entwicklung des Reiserechts der Luftbeförderung einschließlich der EU-Fluggastrechte-VO im Jahre 2020
Ernst Führich, MDR 2021, 909

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