06.06.2025

Was ist alles Arbeitszeit und wann ist sie zu vergüten? | Checkliste für eine schnelle Einordnung typischer Fallgruppen

Portrait von Sarah Maria Fröhlingsdorf
Sarah Maria Fröhlingsdorf

Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung ist nach der BAG-Entscheidung vom 13.9.2022 (Az. 1 ABR 22/21, ArbRB 2023, 9 [Hülbach]) und den EuGH-Entscheidungen vom 14.05.2029 (C-55/18, ArbRB 2019, 162 [Marquardt]) und 19.12.2024 (C-531/23, ArbRB 2025, 36 [ Schewiola]) in der arbeitsrechtlichen Praxis angekommen – immer häufiger gibt es Verhandlungen mit Betriebsräten und Einigungsstellen zur Zeiterfassung. In jeder dieser „Projekte“ führt an einer zentralen Frage kein Weg vorbei: Was ist überhaupt Arbeitszeit? Die Antwort hierauf ist komplex. Denn Arbeitszeit im arbeitsschutzrechtlichen Sinn ist nicht gleich auch vergütungsrechtliche Arbeitszeit und eine „Omni-Lösung“ für jede Tätigkeit gibt es meist nicht.

In Ergänzung zu meinem Aufsatz in der Juni-Ausgabe des ArbRB (ArbRB 2025, S5) fasse ich nachfolgend kurz zusammen, zwischen welchen Arten von Arbeitszeit zu unterscheiden ist, wann Arbeitszeit auch zu vergüten ist (nicht immer!) und was die wesentlichen Fallgruppen sind. Die Tabelle am Ende ermöglicht es, schnell herauszufinden, ob Arbeitszeit vorliegt und eine Vergütungspflicht besteht.

Zwei Perspektiven – zwei Rechtsfolgen

Im deutschen Arbeitsrecht ist zwischen zwei Dimensionen zu unterschieden:

  • Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes (ArbZG):

    Gemäß § 2 Abs. 2 Satz. 1 Hs. 1 ArbZG ist Arbeitszeit „die Zeit vom Beginn bis zum Ende der Arbeit ohne die Ruhepausen“. Diese Definition dient dem öffentlich-rechtlichen Arbeitsschutz. Sie ist maßgeblich für die Einhaltung von Höchstgrenzen der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit (§ 3 ArbZG), für Ruhezeiten (§ 5 ArbZG) sowie für Pausenregelungen (§ 4 ArbZG). Diese Definition ist funktional und zielt auf den Schutz vor Überbeanspruchung ab. Sie umfasst:
    • Vollarbeit (volle Beanspruchung durch Arbeitsleistung),
    • Arbeitsbereitschaft (ständige Aufmerksamkeit ohne durchgehende Tätigkeit),
    • Bereitschaftsdienst (Aufenthalt an einem vom Arbeitgeber bestimmten Ort mit Einsatzbereitschaft),
    • jedoch nicht zwingend Rufbereitschaft, da diese außerhalb des Betriebs und ohne unmittelbare Verpflichtung zur Tätigkeit erfolgt.
  • Vergütungspflichtige Arbeitszeit (§ 611a BGB):

    Die zivilrechtliche Perspektive betrifft die Frage, wann ein Anspruch auf Bezahlung besteht. Vergütungspflichtig ist im Grundsatz jede Tätigkeit, die im Rahmen des Arbeitsverhältnisses auf Anweisung des Arbeitgebers erfolgt – auch wenn sie nicht unter den Arbeitszeitbegriff des ArbZG fällt. Auch hier gibt es aber natürlich Ausnahmen (z.B. bei wirksamen Überstundenabgeltungsklauseln).

Öffentlich-rechtliche vs. zivilrechtliche Dimension

Die öffentlich-rechtliche Dimension des ArbZG dient dem Schutz der Gesundheit und ist nicht dispositiv – sie kann also nicht zu Ungunsten der Beschäftigten abbedungen werden. Verstöße gegen das ArbZG können ordnungsbehördlich sanktioniert werden (§§ 17 ff. ArbZG) und sogar strafbar sein (vgl. § 23 ArbZG).

Demgegenüber ist die vergütungsrechtliche Dimension privatrechtlich und unterliegt der Vertragsfreiheit – allerdings begrenzt insbes. durch das Mindestlohngesetz und das AGB-Recht. Arbeitgeber und Arbeitnehmer können also grundsätzlich vereinbaren, welche Zeiten bezahlt werden – solange der Mindestlohn nicht unterschritten wird und die Klauselgestaltung keine unangemessene Benachteiligung darstellt. Es gilt jedoch: Nicht jede Zeit, die arbeitsschutzrechtlich Arbeitszeit darstellt, ist auch zu vergüten!

Typische Fallgruppen im Überblick

Die arbeitsrechtliche Praxis kennt zahlreiche Konstellationen, bei denen die Einordnung nicht immer eindeutig und vor allem von einer Einzelfallbewertung abhängig ist. Dazu zählen unter anderem:

  • Bereitschaftsdienst und Rufbereitschaft

  • Reisezeiten und Wegezeiten

  • Umkleide-, Wasch- und Rüstzeiten

  • Schulungen, Betriebsratstätigkeit und Betriebsveranstaltungen

  • Freizeit, Ruhezeiten, Pausen und Bagatellarbeit

Die Einordnung hängt häufig von der konkreten Ausgestaltung im Einzelfall ab – insbesondere davon, ob und wie der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und, ob und wie dieser in seiner Freizeitgestaltung eingeschränkt ist.

Übersicht für die Praxis

Zur schnellen Orientierung bietet die folgende Tabelle einen groben Überblick über die arbeitszeitrechtliche und vergütungsrechtliche Einordnung verschiedener „Tätigkeiten“ – eine Einzelfallbetrachtung kann dies natürlich nicht ersetzen:

 

„Tätigkeit“ Arbeitszeit i.S.d. ArbZG Vergütungspflichtige Arbeitszeit
Arbeitsbereitschaft
Außendienstfahrt zum ersten Kunden
Bagatellarbeit Abhängig vom Einzelfall Noch nicht höchstrichterlich geklärt
Bereitschaftsdienst
Betriebsratstätigkeit
Betriebsveranstaltungen Abhängig vom Einzelfall Abhängig vom Einzelfall
Betriebsversammlungen (freiwillig)
Freizeit
Kurze rein private Unterbrechungen
Kurze sozialadäquate Unterbrechungen
Raucherpause
Reisezeit/Dienstreisen Abhängig vom Einzelfall Abhängig vom Einzelfall
Rufbereitschaft Abhängig vom Einzelfall
Ruhepause
Ruhezeit
Schulungen während der Arbeitszeit
Ständige Erreichbarkeit
Umkleide-/Waschzeiten (auffällige Kleidung)
Umkleide-/Waschzeiten (unauffällige Kleidung)
Überstunden Abhängig vom Einzelfall
Vollarbeit
Wegezeit zur Arbeitsstätte

 

Fazit

Die Einordnung von Tätigkeiten als Arbeitszeit ist nicht nur eine „beiläufige“ formale Frage, sondern hat weitreichende Konsequenzen – sowohl für die Einhaltung des Arbeitszeitrechts als auch für die Vergütungspflicht. Arbeitgeber sind gut beraten, ihre betrieblichen Abläufe anhand der aktuellen Rechtsprechung zu überprüfen und klare Regelungen zu treffen. Denn nur wer weiß, was Arbeitszeit ist, kann sie gesetzeskonform erfassen – und ggf. rechtssicher vergüten; ausführlich dazu:

Fröhlingsdorf, Was ist Arbeitszeit? – Ein Überblick, ArbRB 2025, S5