Forensische Aussagepsychologie im Arbeitsgerichtsverfahren: LAG glaubt drei übereinstimmenden Zeugenaussagen nicht
LAG Niedersachsen v. 26.5.2025 - 4 SLa 442/24Die Parteien stritten über den Zugang einer Kündigung. Die Beklagte behauptete, am 24.10.2023 habe der Geschäftsführer der Klägerin in Anwesenheit von drei weiteren Mitarbeitern eine schriftliche Kündigung übergeben wollen. Nachdem diese sich geweigert habe, das Schreiben anzunehmen und den Empfang zu bestätigen, sei das Schreiben auf ihren Schreibtisch gelegt worden.
Schon das ArbG hielt nach Vernehmung der von der Beklagten benannten Zeugen P., W. und B. deren Aussagen nicht für glaubhaft und gab der Kündigungsschutzklage statt. Das LAG hat die Berufung der Beklagten abgewiesen und die Revision nicht zugelassen.
Die Gründe:
Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das ArbG festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht durch eine Kündigung vom 24.10.2023 beendet worden ist. Das ArbG hat rechtsfehlerfrei und nachvollziehbar dargestellt, warum es nach durchgeführter Vernehmung aller von der Beklagten angebotenen Zeugen nicht die nötige Gewissheit erlangen konnte, dass der Klägerin tatsächlich am 24.10.2024 eine Kündigung zugegangen ist.
Nach § 286 Abs. 1 ZPO hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlungen und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder für nicht wahr zu erachten ist. Auch wenn das Gericht nach § 286 Abs. 2 ZPO an gesetzliche Beweisregeln nur in den durch die ZPO bezeichneten Fällen gebunden ist, muss die richterliche Überzeugung mit den Denk-, Natur- und Erfahrungsätzen in Einklang stehen. Zu den wissenschaftlichen Erfahrungssätzen zählen die Erkenntnisse der Aussagenpsychologie, welche damit auch bei der Beweiswürdigung zu berücksichtigen sind.
Bei der Analyse der Glaubhaftigkeit einer spezifischen Aussage ist nach den allgemein anerkannten Grundsätzen der forensischen Aussagepsychologie von der sog. Nullhypothese auszugehen. Dies bedeutet, das im Ansatz davon auszugehen ist, dass die Glaubhaftigkeit einer Aussage positiv begründet werden muss. Erforderlich ist deshalb eine Inhaltsanalyse, bei der die Aussagequalität zu prüfen ist. Es geht um die Ermittlung von Kriterien der Wahrhaftigkeit. Zur Durchführung der Analyse der Aussagequalität existieren Merkmale, die die Überprüfung ermöglichen, ob die Angaben auf tatsächlich Erlebtem beruhen, sog. "Realkennzeichen", oder ob sie ergebnisbasiert sind. Das Vorhandensein dieser Real- oder Glaubwürdigkeitskennzeichen gilt als Hinweis für die Glaubhaftigkeit der Angaben. Das Fehlen spricht eher gegen die Glaubhaftigkeit der Angaben. Die Erkenntnisse der Aussagepsychologie sind nicht auf strafrechtliche Verfahren beschränkt, sondern beanspruchen Allgemeingültigkeit und sind daher auch im Arbeitsgerichtsverfahren zu beachten.
Das ArbG hat die Zeugenaussagen unter Einbeziehung dieser Maßgaben zutreffend gewürdigt und die fehlende Überzeugung von einem Zugang der Kündigung am 24.10.2024 daran festgemacht, dass alle Aussagen für sich genommen keine ausreichenden Realitätskennzeichen aufweisen und nicht durch individuell unterschiedliche Wahrnehmungen der einzelnen Personen geprägt waren, während die Aussagen im Kerngeschehen einen sehr hohen Grad an Übereinstimmung beinhalteten. Dieser Wertung schließt sich die Berufungskammer in Ansehung der protokollierten Zeugenaussagen vollumfänglich an.
Ergänzend zu den Ausführungen des ArbG sprechen weitere Anzeichen aus den protokollierten Zeugenaussagen gegen eine Überzeugung dahingehend, dass der Klägerin tatsächlich am 24.10.2023 eine Kündigung übergeben worden ist.
So ist auffällig, dass alle Zeugen sehr detailreich dargestellt haben, welche Position der jeweilige Zeuge/die Zeugin bei Übergabe der Kündigung eingenommen haben will. Die Klägerin selbst kommt hingegen in dem von den Zeugen gleichförmig gezeichneten Bild kaum vor. Keiner der Zeugen schildert anschaulich und lebensnah eine etwaige emotionale Reaktion oder ein Verhalten der Klägerin auf eine nicht alltägliche Situation, nämlich des gleichzeitigen Erscheinens von vier Personen im Büro zur Übergabe einer Kündigung.
Soweit die Berufung meint, das ArbG verliere sich in der Beklagten unbekannten akademischen Floskeln und verlange zu viel von einem normalen Zeugen, verkennt sie, dass das ArbG hier keine besonderen Anforderungen an die Zeugen oder deren Aussagen gestellt hat, sondern die getätigten Aussagen unter Anwendung der Erkenntnisse aus der Aussagepsychologie einer Überprüfung mit zutreffendem Ergebnis unterzogen hat.
Auch der Einwand der Beklagten, es habe bei dem höchsten 30 bis 60 Sekunden handelnden Vorgang der Kündigungsübergabe kein zum Beweisthema gehörendes Randgeschehen gegeben, greift nicht. Eine etwaige Reaktion oder sichtbare Emotion der Klägerin auf die nicht alltägliche Übergabe eines Kündigungsschreibens gehört nicht zum Randgeschehen und bleibt nach allgemeiner Lebenserfahrung wahrscheinlicher in Erinnerung als unwesentliche Details, wie die hier übereinstimmend von allen Zeugen im Einzelnen geschilderte konkrete Personenanordnung bei Übergabe der Kündigung, die in aller Regel mit der Zeit verblassen. Ausweislich des Protokolls hat das ArbG den Zeugen auch ausreichend Gelegenheit gegeben, über die Atmosphäre und etwaige erkennbare Reaktionen der Klägerin zu berichten.
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