10.06.2025

Fiktive Gesamtstrafe? Zur Erheblichkeitsschwelle des § 290 Abs. 1 Nr. 1 InsO beim Vorliegen mehrerer Straftaten

Im Beschwerdeverfahren ist die Zivilkammer nicht befugt, selbst über die Übertragung eines in die originäre Zuständigkeit des Einzelrichters fallenden Beschwerdeverfahrens zu entscheiden. Bei Verurteilung des Schuldners zu einer Gesamtstrafe wegen einer oder mehrerer Straftaten nach den §§ 283 bis 283c StGB und anderer Straftaten kann weder im Kostenstundungsaufhebungsverfahren noch im Versagungsverfahren eine "fiktive" Gesamtstrafe allein aus den Verurteilungen wegen der Straftaten nach den §§ 283 bis 283c StGB durch das Insolvenzgericht gebildet werden.

BGH v. 15.5.2025 - IX ZB 8/25
Der Sachverhalt:
Dem Schuldner wurde auf seinen Antrag hin am 12.12.2023 Verfahrenskostenstundung bewilligt; am 13.12.2023 wurde über sein Vermögen das Insolvenzverfahren eröffnet und die weitere Beteiligte zur Insolvenzverwalterin bestellt. In dem Antrag auf Verfahrenskostenstundung vom 7.11.2023 hatte der Schuldner erklärt, dass er in den letzten fünf Jahren vor seinem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens vom 30.11.2023 oder danach nicht wegen einer Straftat nach den §§ 283 bis 283c StGB rechtskräftig zu einer Geldstrafe von mehr als 90 Tagessätzen oder einer Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten verurteilt worden sei. Durch rechtskräftigen Strafbefehl vom 6.4.2023 war der Schuldner wegen vorsätzlicher Insolvenzverschleppung in Tatmehrheit mit vier tatmehrheitlichen Fällen des Bankrotts zu einer Gesamtgeldstrafe i.H.v. 180 Tagessätzen zu je 50 € verurteilt worden. Die Einzelstrafen betrugen für die Insolvenzverschleppung 130 Tagessätze und für die vier Fälle des Bankrotts jeweils 70 Tagessätze.

Das AG hob mit Beschluss vom 2.5.2024 die Verfahrenskostenstundung auf. Zur Begründung führte es aus, der Schuldner habe vorsätzlich oder grob fahrlässig unrichtige Angaben zu Umständen gemacht, die für die Eröffnung des Verfahrens oder die Stundung maßgebend seien, indem er eine Bankrottstraftat verschwiegen habe. Im Rahmen der dagegen am 17.5.2024 eingelegten sofortigen Beschwerde trug der Verfahrensbevollmächtigte des Schuldners im Schriftsatz vom 1.7.2024 vor, die Bildung einer fiktiven Gesamtstrafe in einem Verfahren über die Versagung der Restschuldbefreiung decke sich nicht mit dem Wortlaut des § 290 Abs. 1 Nr. 1 InsO; er regt insoweit ggf. die Zulassung der Rechtsbeschwerde durch die Kammer an. Das AG legte mit Beschluss vom 4.7.2024 die sofortige Beschwerde nach Nichtabhilfe dem LG - Beschwerdegericht - vor. Mit Beschluss vom 9.7.2024 wies das LG (Einzelrichterin) die sofortige Beschwerde zurück. Der Beschluss enthält keine Ausführungen zur Zulassung der Rechtsbeschwerde.

Gegen den mit Verfügung vom 9.7.2024 formlos übermittelten, dem Verfahrensbevollmächtigten des Schuldners am 11.7.2024 zugegangenen Beschluss bat dieser am 23.7.2024 im Wege der "Gegenvorstellung/Anhörungsrüge" um Überprüfung der Entscheidung und Zulassung der Rechtsbeschwerde. Auf die Vorlageverfügung der Einzelrichterin übernahm die Zivilkammer durch Beschluss vom 3.9.2024 das Verfahren. Durch Beschluss vom 6.9.2024 änderte sie auf die Anhörungsrüge den Beschluss vom 9.7.2024 dahingehend ab, dass die Rechtsbeschwerde zugelassen wird. Nach Bewilligung von Prozesskostenhilfe durch den Senat legte der Schuldner Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des Beschwerdegerichts ein, mit der er die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung begehrt.

Der BGH gewährte dem Schuldner wegen Versäumung der Frist für die Rechtsbeschwerde und die Rechtsbeschwerdebegründung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, hob auf die Rechtsbeschwerde des Schuldners den Beschluss des LG auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an den nach dem Geschäftsverteilungsplan zuständigen Einzelrichter des LG zurück.

Die Gründe:
Der angefochtene Beschluss unterliegt bereits deshalb der Aufhebung, weil das LG unter Verletzung des verfassungsrechtlichen Gebots des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) entgegen § 568 Satz 1 ZPO nicht durch den originär zuständigen Einzelrichter, sondern trotz einer nicht (wirksam) erfolgten Übertragung des Verfahrens gem. § 568 Satz 2 ZPO durch die Kammer entschieden hat.

Gem. § 568 Satz 1 ZPO entscheidet das Beschwerdegericht durch eines seiner Mitglieder als Einzelrichter, wenn die angefochtene Entscheidung von einem Einzelrichter oder einem Rechtspfleger erlassen wurde. Hier hat über die Aufhebung der Verfahrenskostenstundung in erster Instanz der Rechtspfleger entschieden. In einem solchen Fall ist die Kammer nur dann zur Entscheidung über die Beschwerde berufen, wenn der Einzelrichter durch eine gesonderte Entscheidung gem. § 568 Satz 2 ZPO das Verfahren dem Beschwerdegericht zur Entscheidung in der im Gerichtsverfassungsgesetz vorgeschriebenen Besetzung überträgt.

An einem entsprechenden Beschluss der Einzelrichterin fehlt es hier. Vielmehr hat die Einzelrichterin die Akte mit Verfügung vom 5.8.2024 dem Kammervorsitzenden zur Prüfung vorgelegt, ob das Verfahren von der Kammer übernommen werden soll. Daraufhin hat die Kammer mit Beschluss vom 3.9.2024 das Verfahren übernommen, das heißt auf sich selbst zur Entscheidung übertragen. Das ist verfahrensfehlerhaft. Die Kammer ist - abgesehen von dem hier nicht gegebenen Fall, dass die Zuständigkeit des Einzelrichters (ausnahmsweise) zweifelhaft ist - nicht befugt, selbst über die Übertragung eines in die originäre Zuständigkeit des Einzelrichters fallenden Beschwerdeverfahrens zu entscheiden. Die angefochtene Entscheidung konnte daher keinen Bestand haben; sie war aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Beschwerdegericht - Einzelrichter - zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO). Für das weitere Verfahren war auf folgendes hinzuweisen:

Auf der Grundlage der Feststellungen der Vorinstanzen ist die Aufhebung der Verfahrenskostenstundung nicht gerechtfertigt. Die Fragen, ob es für die Erheblichkeitsschwelle des § 290 Abs. 1 Nr. 1 InsO beim Vorliegen mehrerer Straftaten auf die jeweilige Einzelstrafe oder die Gesamtstrafe ankommt und ob beim Zusammentreffen von Straftaten nach §§ 283 bis 283c StGB mit anderen Straftaten aus den Katalogtaten durch das Insolvenzgericht eine fiktive Gesamtstrafe zu bilden und zu berücksichtigen ist, sind bisher höchstrichterlich nicht geklärt. Das Schrifttum nimmt teilweise an, wenn eine Verurteilung des Schuldners auch wegen anderer als der in § 290 Abs. 1 Nr. 1 InsO genannten Straftaten erfolgt und eine Gesamtstrafe gebildet worden sei oder einzelne Verurteilungen erfolgt seien und eine Gesamtstrafe noch nicht gebildet worden sei, habe das Insolvenzgericht hinsichtlich der einbezogenen oder der einzubeziehenden Insolvenzstraftaten eine fiktive Gesamtstrafe zu bilden. Nach der Gegenauffassung kommt es bei einer Verurteilung zu einer Gesamtstrafe nur auf die Einzelstrafe an, die wegen der Insolvenzstraftat verhängt worden ist. Richtigerweise ist zu unterscheiden. 

Die Bildung einer fiktiven Gesamtstrafe aus einschlägigen Einzeltaten durch das Insolvenzgericht ist gesetzlich nicht vorgesehen und läuft dem Zweck des Gesetzes sowie den berechtigten Interessen des Schuldners zuwider. Abzustellen ist allein auf die von den Strafgerichten tatsächlich verhängten Strafen. Danach sind die Voraussetzungen des § 290 Abs. 1 Nr. 1 InsO in drei Fällen erfüllt: Die Verurteilung zu einer Geldstrafe von mehr als 90 Tagessätzen oder einer Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten erfolgte wegen einer einzelnen Straftat nach §§ 283 bis 283c StGB. Hat das Strafgericht den Schuldner wegen mehrerer Straftaten zu einer Gesamtstrafe verurteilt, genügt es, wenn das Strafgericht im Rahmen der Festsetzung der Gesamtstrafe eine entsprechend hohe Einzelstrafe für auch nur eine Straftat nach §§ 283 bis 283c StGB festgesetzt hat. Schließlich kann auch eine Verurteilung durch ein Strafgericht zu einer Gesamtstrafe von mehr als 90 Tagessätzen oder einer Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten ausreichen, wenn in diese Gesamtstrafe ausschließlich Einzelstrafen wegen Straftaten nach den §§ 283 bis 283c StGB eingeflossen sind.

Mehr zum Thema:

Kommentierung | InsO
§ 4c Aufhebung der Stundung
Sternal in Kayser/Thole, Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 11. Aufl. 2023

Kommentierung | InsO
§ 6 Sofortige Beschwerde
Sternal in Kayser/Thole, Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 11. Aufl. 2023

Kommentierung | InsO
§ 290 Versagung der Restschuldbefreiung
Waltenberger in Kayser/Thole, Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 11. Aufl. 2023

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